05 - Denn bitter ist der Tod
auferlegen.
Er sah zum dunklen Himmel hinauf. In der Ferne funkelte ein Licht.
»Was siehst du?« fragte Helen.
»Eine Sternschnuppe, glaube ich. Mach die Augen zu, Helen, schnell. Und wünsch dir etwas.« Er drückte selbst die Augen zu.
Sie lachte leise. »Die Sternschnuppe ist ein Flugzeug, Tommy. Auf dem Weg nach Heathrow.«
Er öffnete die Augen und sah, daß sie recht hatte. »Tja, in der Astronomie war ich noch nie eine Leuchte.«
»Das kann ich nicht glauben. In Cornwall hast du mir immer sämtliche Sternbilder gezeigt, weißt du noch?«
»Das war reines Imponiergehabe, Helen. Ich wollte dich unbedingt beeindrucken.«
»Ach? Ich war wirklich beeindruckt.«
Er sah sie an. Er nahm ihre Hand. Trotz der Kälte hatte sie keine Handschuhe an. Er drückte ihre kühlen Finger an seine Wange. Er küßte ihre Handfläche.
»Ich habe dagesessen und diesem Mann zugehört, und dabei wurde mir bewußt, daß das gut ebenso ich sein könnte«, sagte er. »Es läuft doch alles nur darauf hinaus, was Männer wollen, Helen. Und wir wollen Frauen. Aber nicht als Persönlichkeiten, nicht als lebendige, atmende, verletzliche menschliche Wesen mit eigenen Wünschen und Träumen. Wir wollen sie - euch - als Verlängerung unserer selbst haben. Und da gehöre ich zu den Schlimmsten.«
Ihre Hand bewegte sich in seiner, aber sie entzog sie ihm nicht, sondern schob ihre Finger zwischen seine.
»Während ich ihm zugehört habe, Helen, habe ich daran gedacht, was du alles für mich sein solltest. Meine Geliebte, meine Frau, die Mutter meiner Kinder. In meinem Bett wollte ich dich haben. In meinem Auto. In meinem Haus. Meine Freunde solltest du bewirten. Mir zuhören, wenn ich von meiner Arbeit erzähle. Still neben mir sitzen, wenn ich nicht reden will. Aufbleiben, bis ich nach Hause komme, wenn ich dienstlich unterwegs bin. Mir dein Herz öffnen. Mein sein. Ja, das waren die Schlüsselwörter, die ich immer wieder gehört habe: Ich, mir, mein, mich.« Er blickte über die Grünanlagen zu den massigen dunklen Schatten der Eichen und Erlen. Als er sich ihr wieder zuwandte, war ihr Gesicht ernst, aber ihre Augen sahen ihn liebevoll an.
»Das ist doch keine Sünde, Tommy.«
»Eine Sünde nicht«, antwortete er. »Aber selbstsüchtig ist es. Was ich will. Wann ich es will. Und du hast dich danach zu richten, weil du eine Frau bist. So bin ich doch, stimmt's? Keinen Deut besser als dein Schwager; nicht besser als Herington.«
»Das stimmt nicht«, sagte sie. »Du bist nicht wie sie. Ich habe dich nie so gesehen.«
»Ich begehre dich seit langem, Helen. Und ich begehre dich jetzt so sehr wie eh und je. Ich habe dagesessen und Herington zugehört, und es ist mir wie Schuppen von den Augen gefallen. Mir ist vorgeführt worden, was zwischen Männern und Frauen nicht stimmt, und immer läuft es auf die eine verdammte Tatsache hinaus, an der sich nichts geändert hat. Ich liebe dich. Ich begehre dich.«
»Wenn du eine Nacht mit mir gehabt hättest, könntest du dann loslassen? Könntest du mich dann gehen lassen?«
Er lachte. Es klang bitter und schmerzlich. Er sah weg. »Ich wollte, es wäre so einfach. Ich wollte, es ginge nur darum. Aber du weißt, daß es nicht so ist. Du weißt, daß ich...«
»Aber könntest du es, Tommy? Könntest du mich gehen lassen?«
Er drehte sich wieder zu ihr herum, als er diesen Unterton in ihrer Stimme hörte, der etwas Drängendes, beinahe Beschwörendes hatte, als flehte sie um ein Maß des Verstehens, das ihm mit ihr nie gelungen war. Und während er ihr Gesicht betrachtete, schien ihm, daß die Erfüllung jedes Traums, den er je gehabt hatte, von dieser Frage abhing.
»Wie soll ich das beantworten?« fragte er. »Ich habe das Gefühl, du machst jede weitere Entscheidung von der Antwort abhängig.«
»Das wollte ich nicht.«
»Aber du tust es, nicht wahr?«
»Ja, vielleicht. In gewisser Weise.«
Er ließ die Hand los und ging zu der niedrigen Mauer am Rand der Terrasse. Unten schimmerte in der Dunkelheit der Fluß, schob sich grün-schwarz und träge der Ouse entgegen, unerbittlich in seiner Fortbewegung, langsam und sicher und unaufhaltsam wie die Zeit.
»Ich habe die gleichen Wünsche wie jeder andere Mann«, sagte er. »Ich möchte ein Zuhause, eine Frau. Ich möchte Kinder, einen Sohn. Ich möchte am Ende wissen, daß ich nicht umsonst gelebt habe, und diese Gewißheit kann ich nur haben, wenn ich etwas hinterlassen kann und jemanden habe, dem ich es hinterlassen kann. Im Moment kann
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