05 - Denn bitter ist der Tod
Ecke bogen, an der aus der Hauptstraße der Broadway wurde, ein völlig irreführender Name für die schmale, auf beiden Seiten von hohen Hecken gesäumte Dorfstraße. Gleich hinter dem letzten Haus, keine dreihundert Meter von der alten Schule entfernt, hing in rostigen Angeln ein altes Gatter. Eine große Eiche breitete über ihm ihre Äste aus, und nicht weit entfernt stand auf einem Wegweiser: Öffentlicher Weg nach Cambridge, 1,5 Meilen.
Das Gatter führte auf grünes Weideland, dessen üppiges Gras von der Last der Feuchtigkeit niedergedrückt war. Sie folgten dem Weg an Zäunen und Mauern der Gärten entlang, in denen die Häuser zur Hauptstraße standen.
»Glauben Sie wirklich, daß sie bei solchem Nebel zu Fuß nach Cambridge gelaufen ist?« fragte Barbara. »Und dann im Eiltempo wieder zurück, ohne sich zu verlaufen?«
»Sie kannte doch den Weg«, versetzte er. »Wenn man sich auskennt, findet man sich hier wahrscheinlich mit verbundenen Augen zurecht.«
»Oder im Dunklen«, fügte sie hinzu.
Der Garten hinter dem alten Schulhaus war von Stacheldraht eingezäunt. Er bestand aus einem Gemüsegarten, der dringend Pflege brauchte, und verwildertem Rasen, an dessen Ende die Hintertür war. Drei Stufen führten zu ihr hinauf, und auf der obersten stand leise winselnd Sarah Gordons Hund Flame.
»Der wird einen Höllenlärm machen, wenn er uns sieht«, sagte Barbara.
»Kommt auf seine Nase und sein Gedächtnis an«, meinte Lynley. Er pfiff leise. Der Hund hob den Kopf. Lynley pfiff noch einmal. Der Hund bellte zweimal kurz -»Verdammt«, sagte Barbara.
- und sprang die Stufen herunter. Ein Ohr aufgestellt, rannte er geschäftig über den Rasen zum Zaun.
»Hallo, Flame.« Lynley hielt ihm die Hand hin. Der Hund schnupperte und begann mit dem Schwanz zu wedeln. »Wir haben es geschafft«, sagte Lynley und schlüpfte durch den Stacheldraht. Flame sprang mit einem kurzen Kläffen an ihm hoch. Lynley packte ihn, hob ihn auf seinen Arm und drehte sich zum Zaun herum, während der Hund ihm begeistert das Gesicht leckte. Er reichte das Tier an Barbara weiter und zog sich seinen Schal vom Hals.
»Ziehen Sie den durch sein Halsband«, sagte er. »Als Leine.«
»Aber ich...«
»Er muß hier weg, Sergeant. Er ist zwar sehr freundlich, aber ich glaube kaum, daß er brav auf der Hintertreppe sitzen bleiben wird, wenn wir uns ins Haus schleichen.«
Barbara hatte einige Mühe, das Tier, das nur aus Beinen und Zunge zu bestehen schien, unter Kontrolle zu bekommen. Sie zog Lynleys Schal unter dem Halsband durch und setzte Flame zu Boden.
»Bringen Sie ihn St. James«, sagte Lynley.
»Und Sie? Sie können doch da nicht allein hineingehen, Inspector. Sie haben gesagt, daß er bewaffnet ist. Und wenn das zutrifft... «
»Verschwinden Sie, Sergeant. Sofort.«
Er wandte sich von ihr ab, ehe sie widersprechen konnte, und rannte geduckt über den Rasen zur Hintertür. Sie war nicht abgeschlossen. Der Türknauf war kalt und feucht, glitschig unter seiner Hand, ließ sich aber geräuschlos drehen. Lynley trat in einen Vorraum, hinter dem sich die Küche befand. Irgendwo in der Düsternis miaute eine Katze. Gleich darauf erschien Silk. Lautlos wie ein altgeübter Einbrecher, kam sie aus dem Wohnzimmer hereingehuscht. Sie blieb abrupt stehen, als sie Lynley sah, und musterte ihn mit unerschrockenem Blick. Dann sprang sie auf eine der Arbeitsplatten und blieb dort wie versteinert sitzen. Lynley ging an ihr vorüber, vom Blick ihrer gelben Augen verfolgt, und glitt lautlos zu der Tür, die ins Wohnzimmer führte.
Der Raum war leer wie die Küche, hinter geschlossenen Vorhängen von Schatten eingehüllt. Im offenen Kamin brannte ein Feuer. Ein kleines Holzscheit lag davor, als hätte Sarah Gordon es gerade auf das Feuer legen wollen, als Anthony Weaver gekommen war und sie gestört hatte.
Lynley legte seinen Mantel ab und ging durch das Wohnzimmer in den Flur, der zu Sarah Gordons Atelier führte. Die Tür war angelehnt, Licht fiel durch den schmalen Spalt auf den hellen Eichenboden.
Er hörte sie sprechen. Es war Sarah Gordons Stimme. Sie klang tonlos, erschöpft.
»Nein, Tony, so war es nicht.«
»Dann sag es mir, verdammt noch mal.« Weavers Stimme war im Gegensatz zu ihrer erregt und heiser.
»Du hast es vergessen, nicht wahr? Du hast nie den Schlüssel zurückverlangt.«
»O Gott.«
»Ja. Nachdem du Schluß gemacht hattest, glaubte ich zuerst, du hättest vergessen, daß ich den Schlüssel zu deinen Diensträumen
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