05 - Denn bitter ist der Tod
Leben eine einzige Suche nach Sicherheit... Alle suchen wir dauernd nach einem Zeichen, das uns sagt, daß wir nicht allein sind. Und diese Sicherheit können uns nur Menschen geben. Wenn ich geliebt werde, bin ich etwas wert. Wenn ich gebraucht werde, bin ich etwas wert.
Wo war im Grunde genommen der Unterschied zwischen Anthony Weaver und ihr? War nicht ihr Verhalten - genau wie seines - von der unausgesetzten Angst bestimmt, daß die Welt ihr ihre Zustimmung versagen würde? Versteckte sich nicht auch hinter ihrem Verhalten eine Verzweiflung, die dem Gefühl der Schuld entsprang?
»Ihre Mutter hat heute einen guten Tag gehabt, Barbie«, hatte Mrs. Gustafson gesagt. »Wenn's auch zuerst ein bißchen schwierig war. Sie wollte überhaupt nicht auf mich hören und hat mich dauernd Pearl genannt. Ihre Kekse wollte sie nicht essen und ihre Suppe auch nicht. Und als der Postbote gekommen ist, hat sie gedacht, es wäre Ihr Vater und wollte unbedingt mit ihm weg. Nach Mallorca, hat sie immer gesagt. Jimmy hat's mir versprochen. Und ais ich ihr klarmachen wollte, daß es gar nicht Jimmy ist, wollte sie mich rausschmeißen. Einfach zur Tür raus. Aber dann hat sie sich endlich doch beruhigt.« Sie hob nervös die Hand zu ihrer Perücke und betatschte mit den Fingern die steifen grauen Locken. »Aber sie wollte einfach nicht aufs Klo. Ich versteh das gar nicht. Ich hab ihr den Fernseher angemacht. Und die letzten drei Stunden war sie wirklich brav.«
Barbara fand sie im Wohnzimmer, im zerschlissenen Sessel ihres Mannes, den Kopf in der fettigen Kuhle, die sein Kopf im Lauf der Jahre hinterlassen hatte. Der Fernsehapparat lief mit brüllender Lautstärke. Es war ein Film mit Humphrey Bogart und Lauren Bacall. Der Film, in dem jene Bemerkung über das Pfeifen vorkam. Barbara hatte ihn schon x-mal gesehen. Sie schaltete das Gerät aus, als Bacall ganz am Schluß durchs Zimmer zu Bogart hinüber tänzelte. Der Moment hatte Barbara immer am besten gefallen, das verschleierte Versprechen für die Zukunft, das er beinhaltete.
»Jetzt geht's ihr gut, Barbie«, sagte Mrs. Gustafson eifrig von der Tür her. »Das sehe ich doch, nicht? Es geht ihr gut.«
Doris Havers hing zusammengesunken im Sessel. Ihr Mund war schlaff. Ihre Hände spielten mit dem Saum ihres Kleides, das sie bis zu den Oberschenkeln heraufgezogen hatte. Gestank nach Exkrementen und Urin hüllte sie ein.
»Mama?« sagte Barbara.
Doris Havers antwortete nicht. Sie summte nur vier Töne, als wollte sie ein Lied anstimmen.
»Da sehen Sie mal, wie schön still und brav sie sein kann«, sagte Mrs. Gustafson. »Sie kann ein richtiges Goldstück sein, wenn sie will.«
Auf dem Boden, fast unmittelbar vor den Füßen ihrer Mutter, lag zusammengerollt der Schlauch des Staubsaugers.
»Was tut der denn hier?« fragte Barbara.
»Barbie, er hilft mir wirklich, um sie...«
Barbara hatte das Gefühl, daß in ihr etwas brach, wie ein Damm, der den Wassermassen nicht länger standhalten kann. »Haben Sie nicht gesehen, daß sie sich vollgemacht hat?« fragte sie Mrs. Gustafson und fand es ein Wunder, wie ruhig ihre Stimme klang.
Mrs. Gustafson wurde blaß. »Vollgemacht? Aber, Barbie, Sie täuschen sich bestimmt. Ich hab sie zweimal gefragt. Sie wollte nicht zum Klo.
»Riechen Sie's denn nicht? Haben Sie nicht nachgesehen? Haben Sie sie allein gelassen?«
Auf Mrs. Gustafsons Lippen zitterte ein zaghaftes Lächeln. »Jetzt sind Sie böse, Barbie. Aber wenn man eine Weile mit ihr zusammen ist -«
»Ich bin seit Jahren mit ihr zusammen. Ich bin mein ganzes Leben mit ihr zusammen gewesen.«
»Ich wollte doch nur sagen -«
»Danke, Mrs. Gustafson. Wir brauchen Sie in Zukunft nicht mehr.«
»Aber - ich...« Mrs. Gustafson griff sich etwa in Höhe ihres Herzens an ihre Kittelschürze. »Nach allem, was ich getan habe.«
»Ganz recht«, sagte Barbara.
Jetzt, draußen auf der Treppenstufe, in der Kälte, die durch den Mantel kroch, sah sie wieder ihre Mutter, die schlaff und leblos wie eine Puppe im Sessel gelegen hatte. Barbara hatte sie gebadet, von einer tiefen Traurigkeit überkommen beim Anblick ihres welken Körpers. Sie führte sie zu ihrem Bett, legte sie hin, deckte sie zu und schaltete das Licht aus. Und die ganze Zeit sprach ihre Mutter nicht ein einziges Wort. Sie war eine lebende Tote.
Manchmal ist das Richtige auch das Offensichtliche, hatte Lynley gesagt. Und es war wahr. Sie hatte von Beginn an gewußt, was getan werden mußte. Aber aus Angst, als
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