05 - Denn bitter ist der Tod
Schnitt machte er in einem heißen Aufruhr von Zorn und Verzweiflung. Er hörte Sarah Nein, Tony! schreien und spürte ihre Finger an seiner Faust und sah ihr Blut, als das Messer über ihre Fingerknöchel glitt, um den zweiten Schnitt in die Leinwand zu machen. Und dann der dritte, aber da war sie schon zurückgewichen. Wie ein Kind hielt sie ihre blutende Hand an sich gedrückt, ohne zu weinen. Nein, weinen würde sie nicht. Nicht vor ihm und nicht vor seiner Frau.
Das reicht, sagte Justine. Sie drehte sich herum und ging hinaus.
Er folgte ihr. Er hatte nicht ein Wort gesprochen.
Sie hatte einmal abends in der Malklasse über das Risiko und den Lohn der tiefsten persönlichen Äußerung in der Kunst gesprochen, den Mut, einer Öffentlichkeit, die vielleicht mißverstehen, verspotten oder zurückweisen würde, etwas vom eigenen innersten Wesen zu zeigen. Er hatte ihren Worten pflichtschuldig zugehört, aber ihre Bedeutung hatte er erst verstanden, als er ihr Gesicht bei Zerstörung ihres Gemäldes gesehen, als er diesen einen schwachen Todesschrei gehört hatte. Mit drei Messerstichen hatte er Sarahs persönlichsten Ausdruck ihrer Liebe zu ihm und ihre Anteilnahme an seinem Leben negiert und ausgelöscht.
Das war vielleicht seine größte Schuld. Das Geschenk herausgefordert zu haben. Es in Stücke gerissen zu haben.
Er nahm seine Aquarelle - diese ganz ungefährlichen Aprikosen und Mohnblumen - von der Wand über dem Sofa. Sie hinterließen zwei helle Flecken auf der Tapete, aber das war nicht zu ändern. Justine würde sicher einen passenden Ersatz für sie finden.
»Was tust du?« fragte sie. »Anthony, antworte mir!« Ihre Stimme klang ängstlich.
»Ich mache reinen Tisch«, sagte er.
Er trug die Bilder in den Vorsaal hinaus und hielt das eine nachdenklich auf seinen Fingerspitzen. Sie können kopieren, hatte sie gesagt. Können Sie kreieren?
Die letzten vier Tage hatten ihm die Antwort gegeben, die er zwei ganze Jahre nicht gefunden hatte. Manche Menschen sind Schaffende. Andere sind Zerstörer.
Er schleuderte das Bild gegen den Treppenpfosten. Glas splitterte und fiel klirrend auf den Parkettboden.
»Anthony!« Justine packte ihn am Arm. »Hör auf! Das sind doch deine Bilder. Das ist doch deine Kunst. Hör auf.«
Er zerschlug das zweite mit noch mehr Wut. Der Schmerz, als seine Hand den Treppenpfosten traf, raste wie eine Kanonenkugel durch seinen Arm. Glassplitter flogen ihm ins Gesicht.
»Ich habe keine Kunst«, sagte er.
Trotz der Kälte ging Barbara mit ihrer Tasse Kaffee in den verwahrlosten Garten des Hauses in Acton hinaus und setzte sich auf den kalten Betonklotz, der als Treppenstufe an der Hintertür diente. Sie zog ihren Mantel fester um sich und stellte die Kaffeetasse auf ihr Knie. Stockfinster war es hier draußen nicht - konnte es nicht sein, wenn man von mehreren Millionen Menschen und einer niemals schlafenden Metropole umgeben war -, aber die nächtlichen Schatten machten den Garten doch zu einem weniger vertrauten Ort, als es das Innere des Hauses war, zu einem neutraleren Ort, der weniger von ihrem Kampf mit Schuldgefühlen belastet war.
Welcher Art, fragte sie sich, ist denn überhaupt die Bindung, die zwischen Eltern und Kind besteht? Und wann wird es schließlich notwendig, diese Bindung zu lösen oder vielleicht neu zu definieren? Und ist die Lösung oder die Neudefinierung überhaupt möglich?
In den letzten zehn Jahren ihres Lebens war ihr langsam klar geworden, daß sie niemals Kinder haben würde. Anfangs hatte diese Erkenntnis ihr Schmerz bereitet, da sie untrennbar mit der Einsicht verbunden war, daß sie wahrscheinlich niemals heiraten würde. Sie wußte, daß man nicht unbedingt verheiratet zu sein brauchte, um Kinder haben zu können. Immer häufiger wurden jetzt auch Alleinstehenden Kinder zur Adoption zugesprochen. Aber sie hatte, allzu konventionell vielleicht, die Elternschaft stets als ein Gemeinschaftsunternehmen zweier Partner gesehen. Und auch die Wahrscheinlichkeit, daß in ihrem Leben ein Partner auftauchen würde, wurde von Jahr zu Jahr geringer.
Sie dachte nicht oft über dieses Thema nach. Doch während die meisten Menschen mit zunehmendem Alter ihre Familie wachsen sahen, durch Heirat und Kinder neue Verbindungen knüpften, bröckelte bei ihr mehr und mehr ab. Ihr Bruder und ihr Vater, beide tot und begraben. Und jetzt würde sie auch das letzte Band durchschneiden müssen, die Verbindung zu ihrer Mutter.
Letzten Endes, dachte sie, ist das
Weitere Kostenlose Bücher