05 - Denn bitter ist der Tod
Gewalt geerntet.
Und es war wahr. Lynley dachte daran, wie er die Frau zuletzt gesehen hatte, in den frühen Morgenstunden, fünf Stunden nachdem man sie aus dem Operationssaal geschoben hatte. Sie lag in einem Zimmer, vor dessen Tür ein uniformierter Constable Wache hielt, eine lächerliche Formalität, um sicherzustellen, daß die Gefangene - die Mörderin - nicht zu fliehen versuchte. Sie wirkte sehr klein in dem Krankenhausbett, und ihr Körper war unter der Decke kaum wahrnehmbar. Immer noch betäubt, lag sie da, mit bläulich angelaufenen Lippen und fahlem Gesicht. Sie lebte, aber sie wußte noch nicht, daß sie einen zusätzlichen Verlust würde ertragen müssen.
Wir konnten den Arm retten, sagte ihm der Chirurg, aber ich weiß nicht, ob sie ihn je wieder gebrauchen kann.
Lynley hatte am Bett gestanden und zu Sarah Gordon hinuntergesehen und über Rache und Gerechtigkeit nachgedacht. In unserer Gesellschaft, dachte er, verlangt das Gesetz Gerechtigkeit, doch der einzelne will immer noch Rache. Aber erlaubt man einem Menschen, auf eigene Faust Vergeltung zu üben, so fordert man damit nur neue Gewalt heraus. Denn außerhalb des Gerichtssaals gibt es keine Möglichkeit, den Ausgleich zu schaffen, wenn einem Unschuldigen Unrecht getan worden ist. Jeder Versuch, es dennoch zu tun, schafft nur Schmerz, zusätzliche Verletzung und neuerliches Bedauern.
Aber jetzt, während er mit Barbara Havers zum College ging, um seine Sachen aus dem kleinen Zimmer im Ivy Court zu holen, fand er diese Philosophie ziemlich bequem. Vor der St. Stephen's Kirche stand ein Leichenwagen. Vor und hinter ihm reihten sich mehr als ein Dutzend Autos.
»Hat sie etwas zu Ihnen gesagt? « fragte Barbara. »Irgend etwas?«
»›Sie dachte, es sei ihr Hund. Elena hat Tiere geliebt.‹« »Und das war alles? «
»Ja.«
»Kein Bedauern? Keine Reue?«
»Nein«, antwortete Lynley. »Und ich kann nicht behaupten, daß ich den Eindruck hatte, sie hätte etwas dergleichen empfunden.«
»Aber was hat sie sich denn nur dabei gedacht, Sir? Daß sie wieder würde malen können, wenn sie Elena Weaver tötete? Daß der Mord irgendwie ihre Kreativität freisetzen würde?«
»Ich denke, sie glaubte, wenn sie Weaver leiden ließe, wie er sie hatte leiden lassen, dann würde sie irgendwie weiterleben können.«
»Nicht sehr rational, wenn Sie mich fragen.«
»Nein, Sergeant. Aber in menschlichen Beziehungen darf man Rationalität nicht erwarten.«
Sie gingen am Friedhof vorbei. Barbara blickte zum normannischen Turm der Kirche hinauf. Das Schieferdach war nur eine Schattierung heller als der düstere Morgenhimmel. Es war ein passender Tag für die Toten.
»Sie haben von Anfang an den richtigen Riecher gehabt«, bemerkte Barbara. »Gute Arbeit, Sir.«
»Keine Komplimente, bitte. Sie hatten auch den richtigen Riecher.«
»Ich? Wieso?«
»Sie hat mich vom ersten Moment an Helen erinnert.«
Er brauchte nur ein paar Minuten, um seine Sachen einzusammeln und in den Koffer zu packen. Barbara stand am Fenster und blickte in den Ivy Court hinunter, während er Schrank und Schubladen leerte. Sie schien ruhiger zu sein als in den letzten Monaten.
Als er das letzte Paar Socken in den Koffer warf, sagte er beiläufig: »Haben Sie Ihre Mutter nach Greenford gebracht?«
»Ja. Heute morgen.«
»Und?«
Barbara sah immer noch zum Fenster hinaus. »Und ich werde mich daran gewöhnen müssen. Loszulassen, meine ich. Allein zu sein.«
»Ja, das muß man manchmal.«
Sie gingen. Sie durchquerten den Hof und gingen wieder am Friedhof vorbei, durch den sich zwischen Sarkophagen und Grabmälern ein schmaler Pfad wand, alt und holprig, von Unkraut überwuchert. Aus der Kirche schallten die letzten Töne einer Hymne herüber, und danach stiegen die klaren Töne einer Trompete in die Stille. Miranda Webberly, vermutete Lynley, die auf ihre eigene Weise von Elena Abschied nahm.
Dann öffnete sich das Kirchenportal, und gemessenen Schrittes trat der Trauerzug heraus, angeführt von sechs jungen Männern, die den bronzefarbenen Sarg trugen. Einer der jungen Männer war Adam Jenn. Dann folgte die Familie. Anthony Weaver mit seiner geschiedenen Frau und hinter ihnen Justine Weaver. Danach kamen die Trauergäste, Mitglieder der Universität. Kollegen und Freunde von Anthony und Justine Weaver, viele Studenten und Dozenten, unter ihnen, wie Lynley sah, Victor Herington.
Weavers Gesicht zeigte keine Regung, als er an Lynley vorüberkam. Sein Blick war auf den Sarg
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