05 - Der Conquistador
Sorgenfalten hatten sich ins Gesicht seines Vaters gegraben, als Ts’onot den Ratssaal verließ.
Ts’onot fühlte sich schlecht, weil die tiefsten Falten wohl er zu verantworten hatte. Das Los eines Chilam war ihm schon oft schwer erschienen. Aber selten so unerträglich wie heute.
***
Die Tage vergingen, ohne dass Ts’onot etwas von sich hören ließ, und Diego de Landa fragte sich mit jeder verstreichenden Stunde mehr, ob er den Herrschersohn und Propheten mit seiner Bitte erzürnt haben mochte.
Doch schließlich traf doch noch Nachricht von ihm ein. Ein Maya erschien und erklärte Diego, dass er ihn in den Palastbau zu Ts’onot führen sollte.
Diego, der die Wartezeit mit Gesprächen im Kreis der anderen Flüchtlinge verbracht hatte, zögerte keinen Moment, und schon wenig später stand er dem Chilam in dessen privaten Räumen gegenüber.
Kunsthandwerker hatten den Ort der Zusammenkunft dezent mit Goldschmuck dekoriert. Für Diego fast eine Alltäglichkeit, seit er unter den Maya lebte. Aber er wusste auch, dass dort, woher er kam, ein Anblick wie dieser eine mörderische Gier entfachen würde.
Ts’onot begrüßte ihn unerwartet herzlich. Dennoch hatte Diego sofort das Gefühl, dass den Chilam etwas belastete. Hatte er etwa schon in Diegos Zukunft geblickt und dabei Entwicklungen gesehen, von denen er nun nicht wusste, wie er sie dem »Mann von jenseits der Wasser« beibringen sollte? Der Gedanke stürzte ihn beinahe in eine Krise.
»Nimm Platz.« Ts’onot deutete auf zwei Matten, die nebeneinander auf dem Boden ausgebreitet lagen.
Sie setzten sich mit verschränkten Beinen einander gegenüber, und Diego fragte geradeheraus: »Hast du schon in meine Zukunft geblickt?«
Ts’onot wirkte überrascht. »Nein. Ich wollte dich dabei haben, wenn ich mein Lomob erwecke. Deine Anwesenheit wird es einfacher machen.«
Diego war erleichtert, dass sein erster Verdacht offenbar nicht zutraf. »Was muss ich tun? Ich meine, außer anwesend zu sein.«
Ts’onot lächelte ihn in einer Weise an, die Diego vollends verwunderte – so lächelten langjährige Freunde einander zu, die viel miteinander durchgemacht und geteilt hatten. Der Chilam wurde ihm allmählich unheimlich.
»Nichts«, sagte Ts’onot. »Du musst nichts weiter tun.« Er nahm den Blick von Diego, griff zu einer tönernen Schale, in der Glut vor sich hin schwelte, und stellte sie zwischen die beiden Matten. Eine Handvoll trockener Kräuter, die Ts’onot hineinwarf, ließ eine Wolke süßlichen Rauches emporsteigen. Diego fühlte sich davon wie benebelt und hörte die Stimme des Propheten nur noch wie aus weiter Ferne.
»Ich beginne jetzt …«
***
Ts’onot konzentrierte sich auf den Mann ihm gegenüber – und auf dessen weiteres Schicksal. Zunächst sah es auch so aus, als könne er es greifen und zu Bildern formen. Doch dann …
Ein schrecklicher Schrei zerriss die Stille!
Die Erkenntnis, dass es sein eigener Schrei war, blieb Ts’onot verwehrt, denn unaufhaltsam wie eine Lawine rauschten die Fragmente der Vision über ihn hinweg. Da waren …
… Schiffe … gewaltige Schiffe, aus denen Männer hervorquollen, die Diegodelanda ähnlich waren … Männer in metallenen Rüstungen und bewaffnet mit eigentümlichen Geräten, deren Funktion sich Ts’onot bald offenbarte …
… als die langen Rohre donnernd Feuer und Geschosse ausspien, die die Körper ihrer Gegner trafen und durchschlugen … genau wie die langen dünnen Klingen, die in Hälse und Leiber stachen … oder die kurzen Pfeile aus bogenartigen, wuchtigen Apparaten, die selbst dann noch ihr Ziel fanden, wenn sie aus weiter Entfernung abgefeuert wurden …
Vor allem aber sah Ts’onot …
… entmenschte Fratzen, die das Niedermähen der Feinde genossen … Fratzen, die umso grässlicher anzuschauen waren, da sie Diegodelandas Gesicht auf unheimliche Weise glichen …
Aber die schrecklichste aller Fratzen war die eines Wesens, das hinter den Eroberern herglitt, als würde es schweben. Als würde es die Vernichter mit den Donnerstöcken vor sich hertreiben, damit sie nicht abließen von ihrem Töten.
Eine Fratze aus reinem weißem Licht war es, die Ts’onot bis in die Tiefen seiner Seele hinein erschütterte. Ein Gesicht, das er aus Tausenden heraus erkannt hätte, obwohl das Wesen sich alle Mühe gab, seine wahre Natur zu verschleiern!
Als sein Verstand an dem Grauen zu zerbrechen drohte, stoppte ein Instinkt das Lomob und damit die Zukunftsschau. Ts’onot sank
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