05 - Der Conquistador
Hand, die Chel ihm am Tag der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes geschenkt hatte. Sie sah genauso aus wie die, die Chel selbst trug, und die, welche sie Balam ein paar Monate später im Rahmen einer feierlichen Zeremonie umgelegt hatte.
Auch bei ihrem Tod hatten die beiden die Zeichen inniger Verbundenheit getragen. Und so hatte Diego sie ihnen auch mit ins Grab gegeben.
Er spürte, wie ihn die Erinnerungen und Gefühle zu übermannen drohten. Während der tagelangen Flucht war dafür kaum Zeit geblieben. Ständig hatten sie wachsam sein, Nahrung sammeln oder jagen müssen.
Mit der Ankunft in Ak Hin Pech war Ruhe eingekehrt. Eine schreckliche Ruhe, in der alles wieder in ihm hochkam.
Er stöhnte, als würde ihm eine Klinge in die Brust getrieben. Die alte Verletzung, nur dass der Schmerz bis mitten ins Herz strahlte.
Seine Hände krampften sich so unkontrolliert um die Kette, dass sie fast zerriss. Gerade noch rechtzeitig konnte Diego sich zur Räson rufen.
Dann hörte er Schritte, die seine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Er blickte auf. Ein Mann, den er schon bei seiner Ankunft bemerkt hatte, trat ein. Groß, schlank, in den Farben eines Chilam gekleidet.
Nach einer kurzen Begrüßung, während der Diego auch den Namen seines Besuchers erfuhr, fragte Ts’onot: »Können wir uns unterhalten?«
Obwohl er nicht der Hausherr war, bot Diego dem Besucher den Platz vor sich an. Der Prophet setzte sich. »Eine schöne Kette.«
»Ja«, sagte Diego rau. »Die schönste Kette der Welt.«
»Sie wurde dir geschenkt.«
Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
Diego blickte dem anderen zum ersten Mal ganz bewusst ins Gesicht. Vor allem die Augen waren Anziehungspunkte. Sie schienen nicht nur das Offensichtliche an Diego zu erblicken, sondern tiefer zu dringen.
Er wand sich unbehaglich. Auch dort, wo er lange Jahre mit den Maya gelebt und ihre Gepflogenheiten übernommen hatte, war er fähigen Chilam begegnet. Doch keiner von ihnen hatte ihn schon nach wenigen Blick- und Wortwechseln auch nur annähernd so in den Bann gezogen wie dieser Ts’onot.
»Ja«, sagte er.
»Von der Frau deines Herzens.«
Diego machte eine brüske Handbewegung, streifte die Kette über den Kopf und ließ sie unter seiner Tunika verschwinden. »Genug davon!«
»Ich wollte dich nicht verärgern. Was ist passiert?«
»Ach?« Diego hob die Brauen. »Das ›siehst‹ du nicht, Chilam ? Dann habe ich dich wohl überschätzt.«
»Ich sehe es, aber manchmal ist es befreiend, sich eine Last von der Seele zu reden.«
Zuerst wollte Diego aufbrausen. Doch Ts’onots ganze Art hinderte ihn daran, ihm seine Fragen wirklich übel zu nehmen. »Ich will nicht darüber reden«, sagte er deshalb nur.
Ts’onot nickte. »Vielleicht später. Dann lass uns jetzt über eine Zeit sprechen, die schon länger zurückliegen muss. Du siehst nicht aus wie ein Angehöriger meines Volkes, aber du lebst wie ein solcher. Seit wann bist du hier? Und woher stammst du tatsächlich, wo wurdest du geboren?«
Diego entspannte sich leicht. »Das ist eine lange Geschichte.«
»Ich bin bereit, mir die Zeit zu nehmen, sie anzuhören.«
Diego zögerte. »Du bist ein Chilam mit einem beeindruckenden Gespür für Menschen und Dinge. Aber eigentlich ist Prophetie deine Profession, nicht wahr?«
Ts’onot machte eine Geste der Bejahung.
»Dann schließen wir einen Handel«, sagte Diego.
»Handel?«, echote Ts’onot.
»Du erfährst von mir meine Vergangenheit … und danach erfahre ich von dir meine Zukunft.«
Zu Diegos Überraschung stimmte Ts’onot zu. »Ich werde deinen Wunsch respektvoll behandeln und erfüllen. Aber dir muss bewusst sein, dass du von mir nicht hören wirst, was du hören willst , sondern was dir wahrhaftig bevorsteht.«
Diego winkte müde ab. »Ich bin durch so viele dunkle Täler gegangen, was sollte mich noch schrecken? Mein Tod?« Er schüttelte den Kopf. »Dann ist es abgemacht?«
»Ja«, sagte Ts’onot, »es ist abgemacht.«
Und so hörte der Maya zum ersten Mal von der Welt jenseits der Wasser und von Dingen jenseits seines Horizonts …
***
Nachdem Diegodelanda seine Schilderung beendet hatte, herrschte eine lange Stille zwischen ihnen. Ts’onot versuchte all das Erfahrene zu verarbeiten. So vieles hatte er nicht einmal ansatzweise verstanden und bedurfte der Nachfrage und Vertiefung bei anderer Gelegenheit. Aber was er verstand, bestärkte ihn in seiner Ansicht, einen einzigartigen Menschen vor sich zu haben.
»Wie hieß der Ort,
Weitere Kostenlose Bücher