05 - Der Conquistador
zu dem dein Schiff unterwegs war?«
»Santo Domingo«, antwortete der nach Maya-Sitte über und über tätowierte Mann.
Wie so viele andere Namen und Begriffe hatte Ts’onot auch diesen noch nie zuvor vernommen. »Ich versuche mir die Größe der Welt vorzustellen, wenn all das Platz darin finden soll, worüber du gesprochen hast«, sagte er andächtig.
»Nicht einmal ich vermag sie mir vorzustellen«, erwiderte Diegodelanda. »Und ich bin gewiss weit herumgekommen.« Seine Worte hatten etwas Tröstliches. »Nun bist du an der Reihe.«.
Statt darauf einzugehen, wies Ts’onot auf die Tätowierungen, die jeden Flecken von Diegodelandas sichtbarer Haut bedeckten. »Sollte das Schicksal dich eines Tages zurück in die Heimat führen, würdest du gewiss unter deinesgleichen auffallen – oder kennt ihr diesen Brauch auch dort?«
»Das Stechen von Farbe unter die Haut?« Er schüttelte den Kopf. »Nein. Aber du weichst aus. Du hast versprochen, mir einen Ausblick auf mein weiteres Leben zu geben.«
»Ich halte meine Versprechen«, sagte Ts’onot. »Aber eine Zukunftsschau ist ein heiliger Akt. Und eine so spezielle, wie du sie wünschst, bedarf der Vorbereitung.«
Es war keine Ausflucht, sondern die reine Wahrheit. Ts’onot konnte sein Lomob , wie einst Oxlaj die seherische Gabe genannt hatte, unter gewissen Umständen inzwischen ganz gezielt und bewusst auslösen. Aber die Antworten, die Diegodelanda von ihm wünschte, waren so persönlicher Natur, dass er sich in traditioneller Weise darauf vorbereiten wollte, um eine entsprechend detaillierte Vision zu beschwören.
Sein Gegenüber musterte ihn prüfend und gelangte offenbar zu dem Schluss, dass Ts’onot es ehrlich mit ihm meinte. »Nenne mir Zeit und Ort.«
»Bald«, erwiderte Ts’onot. »Ich werde dich zu mir rufen lassen.«
***
Bevor sich Ts’onot mit der Bitte des Fremden befasste, widmete er sich dem, worum sein Vater ihn gebeten hatte: dem Problem, das die Tutul Xiu darstellten.
Er zog sich in seine Räumlichkeiten innerhalb des Palastes zurück und versetzte sich, wie er es schon viele Male zuvor getan hatte, in eine Trance, die das Lomob gezielt auf eine ganz bestimmte Fährte führen sollte.
Ah Ahaual hatte nach den Folgen eines Krieges gegen die raubenden, plündernden und mordenden Tutul Xiu gefragt, nach den ganz unmittelbaren Folgen für sein Volk und sein Reich. Dem spürte Ts’onot nach – doch sein Geist stieß lediglich in eine so schwindelerregende Leere vor, dass der Prophet Mühe hatte, daraus zurückzufinden.
Er fand sich mit konvulsivischen Zuckungen am Boden wieder, erschöpft wie nach einem Tagesmarsch ohne Verschnaufpause und die Tunika durchnässt von Schweiß.
Es dauerte eine Weile, bis er sich wieder so weit erholt hatte, dass er bei seinem Vater vorsprechen konnte.
»Ich habe versucht, die Zukunft nach den Folgen eines Krieges gegen die Tutul Xiu zu befragen, wie du es mir aufgetragen hast«, begann Ts’onot.
Ah Ahaual erbleichte. »Dann überbringst du keine gute Kunde.«
»Eigentlich überbringe ich gar keine Kunde, denn der Versuch misslang. Und zwar in einer Weise, die ich nie zuvor erlebt habe.« Er schilderte, wie sich sein Geist fast für immer in der Leere verloren hätte.
Ah Ahaual lauschte den Worten und schwieg eine Weile, dann sagte er düster: »Dir ist klar, dass dies im Grunde deine Vision von der verwaisten Stadt bestätigt? Du konntest nichts sehen, weil da nichts mehr war außer dem Ende der Zeiten.«
Ts’onot war zu dem gleichen Schluss gelangt. Und darum war es ihm auch so schwer gefallen, vor seinen Vater zu treten. Er nickte.
»Geh jetzt und erhole dich von dem Schrecken«, verabschiedete ihn der Kazike, doch als Ts’onot fast schon durch die Tür war, holte ihn die Stimme seines Vaters noch einmal ein. »Es ist ein unpassender Moment, ich weiß, aber … konntest du dich schon den Hinterlassenschaften des Oxlaj widmen, Reif und Messer?«
»Dazu gibt es noch keine neuen Erkenntnisse. Ich werde dich umgehend unterrichten, sobald ich mehr darüber weiß.«
Ah Ahaual nahm es so hin. »Und der fremde Anführer der Flüchtlinge? Ich hörte, du warst bei ihm.«
Ts’onot war nicht überrascht. Als Kazike hatte sein Vater Augen und Ohren überall. »Das stimmt. Ich erfuhr viel von seiner Herkunft und von dem Schicksal, das ihn zu uns führte. Aber lass mich dir ein anderes Mal berichten.«
»Natürlich – obwohl ich vor Neugier brenne. Geh jetzt. Geh und komm wieder zu Kräften.«
Tiefe
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