05 - Der Conquistador
war fernes Sirenengeheul zu hören.
Plötzlich bog aus einer Seitenstraße ein Vehikel, das er aus irgendeinem Grund nicht sofort Carlota zuordnete. Dazu wirkte es viel zu wuchtig, zu massig und roch zu sehr nach Adrenalin. Zu seiner Überraschung entdeckte er jedoch die junge Frau hinter dem Steuer, und kurz darauf hielt der staubige Geländewagen neben ihm. LAND-ROVER stand in großen Lettern auf dem Kühlergrill. Und etwas kleiner: SANTANA.
Von Santana Motors hatte Tom schon einmal gehört, aber nicht gewusst, dass sie Land-Rover-Modelle in Lizenz hergestellt hatten. Das musste, dem Gesamteindruck des Gefährts nach zu schließen, auch schon ein paar Jährchen her sein. Nichtsdestotrotz fuhr das Unikum offenbar noch ganz verlässlich, selbst nach dem längeren Garagenaufenthalt.
»Da staunst du, was?«, rief Maria Luisa ihm durch die heruntergekurbelte Scheibe zu. »Ich war selbst völlig überrascht. Hast du das Buch?«
Tom klopfte sich gegen den Bauch, wo unter dem Hemd und hinter dem Gürtel nicht nur die Kladde steckte, sondern auch der Revolver aus dem Ultima Refugio . Er war zwar leergeschossen, aber Tom wollte ihn nicht zurücklassen. Munition war erheblich leichter zu beschaffen als eine neue Waffe.
Als er zur Beifahrerseite wollte, schüttelte Maria Luisa den Kopf und rutschte selbst hinüber. »Tu mir einen Gefallen und fahr du. Ich komme mit diesem Monster nicht so gut zurecht.«
Tom umrundete den Boliden, der sogar noch die alten Kennzeichen trug. Dass sie entwertet waren, fiel bei flüchtigem Hinschauen gar nicht auf. Er öffnete die Fahrertür und tauchte in den geräumigen Innenraum ab. Carlota und Alejandro saßen auf der Rückbank, die nicht durch ein Zurückklappen der Vordersitze erreichbar waren, da es sich um einen klassischen Dreitürer handelte.
»Carlota, Carlota«, sagte Tom in tadelndem Ton. »So viel Verwegenheit hatte ich Ihrem Gatten und Ihnen gar nicht zugetraut.«
Die alte Dame lächelte nur matt. Die Ereignisse im Haus waren ihr ganz offensichtlich aufs Gemüt geschlagen.
Sie waren noch keine Minute unterwegs, als die blinde Dame aussprach, was sie umtrieb: »Dieser Mann, auf den ich geschossen habe – wie geht es ihm?«
Tom und Maria Luisa tauschten einen schnellen Blick – und kamen stumm überein, ihr nicht zu sagen, dass der Verbrecher tödlich verwundet worden war.
»So weit ich es sehen konnte, haben ihn seine Leute aus dem Haus gebracht«, hielt sich Tom so dicht wie möglich an der Wahrheit. »Sie werden sich bestimmt um ihn kümmern, machen Sie sich keine Sorgen, Seño … abuelita , meine ich.«
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, und Tom stellte eine Frage, die ihn seit dem Zwischenfall beschäftigte: »Verraten Sie mir, woher die Flinte so plötzlich kam – und wie Sie wissen konnten, wohin Sie zielen mussten?«
Carlotas Lächeln vertiefte sich noch. »Nun, die erste Frage ist leicht beantwortet: Es ist das Gewehr meines Mannes. Er bewahrte es stets in einem Hochschrank neben der Spüle auf. Was die zweite Frage angeht …« Sie atmete tief ein. »Erstens ist mein Gehör recht gut und ich kann abschätzen, wo sich jemand aufhält, wenn er spricht. In diesem Fall war es aber noch einfacher … wenn auch unbegreiflich.«
Tom fragte sich nur einen Moment, was sie damit meinte – dann fiel unverhofft der Groschen. »Das Artefakt!«, entfuhr es ihm.
Maria Luisa hatte noch nicht begriffen. »Was ist damit?«, fragte sie.
»Ich hatte dir doch erzählt, dass deine Großmutter es trotz ihrer Blindheit sehen kann«, sprudelte es aus Tom hervor. »Mein Gott, das ist genial – Sie haben einfach auf den Kristall gezielt, als einer der Banditen ihn aufgefangen hatte!«
»Auf Menschen zu schießen kann nicht genial sein«, erwiderte Carlota bedrückt.
»Es hat uns alle gerettet«, beeilte sich Tom zu sagen. »Sie sind schwer in Ordnung, Carlota! Ihr Mann wäre stolz auf Sie, da können Sie sicher sein.«
Tom steuerte den Land-Rover über ein Gewirr von Nebenstraßen aus Rivas-Vaciamadrid heraus und bog bei nächster Gelegenheit in einen Waldweg ein. Hier beratschlagten sie, wie es weitergehen sollte. Klar war, dass sie Carlota nicht den Strapazen einer Flucht von ungewisser Dauer aussetzen wollten.
»Kennst du jemanden in nicht allzu weiter Entfernung, der dich für ein paar Tage aufnehmen würde?«, fragte Maria Luisa. »Danach meldest du dich bei der Polizei und machst eine Aussage.«
»Und was soll sie denen erzählen?«, fragte Tom.
»Nun … wie
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