0511 - Fenster der Angst
Normalerweise hätte sich das Gesicht des Totengräbers darin gespiegelt, sie aber sah nur einen grauen Umriß, der in Bewegung geriet, als der alte Mann nickte.
»Bitte, nehmen Sie Ihre Hände von meinen Schultern, Mr. Davies.«
»Nein, Kleine, das werde ich nicht. Ich will, daß du am Fenster stehenbleibst und nach draußen schaust. Du sollst es sehen.«
»Was soll ich sehen?«
»Wenn sie kommt, wenn sie erscheint…«
»Julia etwa?«
»Ja, ihr Geist wird sehr bald hier auftauchen. Sie wird mich besuchen wollen, das weiß ich genau. Sie besucht mich öfter, weil sie genau weiß, wie ich zu ihr stehe. Sie hat begriffen, daß nur ich es gewesen bin, der sie damals geliebt hat, und sie hat es nicht vergessen. Wir sind gute, sehr gute Freunde.«
Glenda gefiel die Entwicklung der Ereignisse überhaupt nicht. Sie fürchtete sich jetzt. Über ihren Rücken rann ein Schauer. Am liebsten wäre sie gegangen, aber da steckte auch ein Rest Neugierde in ihr.
John Sinclair hatte das Gesicht gesehen, sie noch nicht. Furcht hatte sie nicht davor, obwohl…
Ihre weiteren Gedanken gerieten ins Stocken. Sie konzentrierte sich auch nicht mehr auf den Druck der Hände, denn sie schaute schräg nach rechts, wo der Nebel dichter geworden war und in langen, sich dennoch bewegenden Schleiern am Boden fest hing.
Dort tat sich etwas.
Da kam jemand, da wehte es heran…
Glenda hielt den Atem an, als sie das Gesicht sah. Es war so, wie John es beschrieben hatte.
»Sie… sie weint!« ächzte der alte Mann hinter ihr. »Mein Mädchen weint blutige Tränen. Es muß Qualen ausstehen. Man hat sie gequält. Warum weinst du?« keuchte er.
Glenda spürte die kalte, unsichtbare Klaue der Furcht, die sich in ihrem Nacken festsetzte. Das war kein Spaß mehr, keine Legende, nicht nur Erzählung.
Sie erlebte die bittere Wahrheit.
Das Gesicht zeigte sich ihr übergroß. John hatte also nicht gelogen.
Sie sah die vom Blut gezeichneten Wangen, die Augen mit den traurigen Pupillen, aus dessen unteren Rändern die langen Blutfäden liefen und sich mit den anderen vereinigten.
Blutige Tränen…
Es war ein feingeschnittenes Gesicht. Fast edle Züge, ein wenig melancholisch wirkend, in dem die zuckenden Lippen besonders auffielen, als wollte das Gesicht noch mehr weinen.
Es kam schräg von vorn, und es schwebte näher, immer näher…
Zum Greifen nahe war es. Wäre nicht die Scheibe gewesen, Glenda hätte hinfassen können.
Und sie vernahm die Stimme des Totengräbers. »Julia ist gekommen, um mich zu besuchen, aber du, du gehörst zu den anderen, die ihr Böses wollen. Doch sie wird dich holen, Kleine…«
Im gleichen Augenblick schwebte der Geist durch die geschlossene Fensterscheibe…
***
Geister oder Gespenster sind feinstofflich. Für sie gibt es keine Hindernisse. Bei ihnen ist der Traum so manches Menschen wahr geworden. Das wußte Glenda, und das bekam sie auch bestätigt.
Sie spürte einen Hauch. Nicht eisig, auch nicht warm, genau in der Mitte liegend. Er strich über ihr Gesicht, schien sich an den dunklen Haaren festkleben zu wollen, bevor er weiterwanderte und tiefer in das kleine Zimmer eindrang.
Pernell Davies, dessen Hände bisher auf Glendas Schultern gelegen hatten, nahm sie weg und drehte sich um. Seine Stimme bekam einen anderen Klang, als er den Gast willkommen hieß. Sie war viel jugendlicher anzuhören, viel herzlicher, als wären die Worte von einem jungen Menschen gesprochen worden.
»Willkommen bei mir. Herzlich willkommen in meinem Haus, kleine Julia. Ich habe gewartet. Ich habe nur auf dich gewartet, das weißt du. Das ist dir bekannt. Du kennst die Gedanken, mit denen ich dich all die Jahre über verfolgt habe.« Er streckte den Arm aus und winkte Julia Ashley zitternd zu.
Auch Glenda schaute nicht mehr in den verwilderten Garten. Sie hatte sich gedreht, weil auch sie erkennen wollte, wer Julia genau war. Weshalb besaß sie nur das Gesicht, wo steckte ihr Körper?
Die beiden Frauen schauten sich an.
Glenda wagte kaum zu atmen. Das Bild überraschte sie. Es hatte etwas Unheimliches an sich.
Übergroß präsentierte sich das bleiche Gesicht. Beinahe zu groß für den kleinen Raum.
Ein Kopf, der von langen blonden Haaren umrahmt wurde. Dazu die hochstehenden Wangenknochen, die dünne und bleich wirkende Haut darüber, die allerdings durch die blutigen Tränenspuren gezeichnet worden war. Ein makabres Muster, das so gar nicht zu dem feingeschnittenen Gesicht passen wollte.
Die Augen oder die Pupillen
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