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0515 - Der mordende Wald

0515 - Der mordende Wald

Titel: 0515 - Der mordende Wald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Kurt Giesa
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Mensch. Sein überhebliches Auftreten war nur Maske, die ein empfindsames Gemüt verbarg. Der Gebieter las sehr viel; er studierte die Schriften der alten und der modernen Philosophen, war ein erklärter Anhänger von René Descartes und allen Neuerungen der Wissenschaft zugetan. Am liebsten hätte er mit seiner Wissenschaft auch die Magie des Gnoms erklärt. Aber das ging natürlich nicht. Magie ließ sich nicht erklären. Sie wirkte auch ohne Wissenschaft.
    Vielleicht hatte Don Cristofero sich gerade wegen seiner Aufgeschlossenheit allem Neuen gegenüber so leicht damit abgefunden, um mehr als 300 Jahre in die Zukunft versetzt worden zu sein.
    Aber nun war er irgendwo anders. Vielleicht in der richtigen Zeit und am richtigen Ort. Und nur der Gnom selbst war bei den Römern.
    Immerhin hatten sie ihm den halbleeren Honigtopf gelassen.
    Während er überlegte, schleckte der Gnom den Topf leer. Nach dieser Honig-Orgie war ihm zwar ziemlich schummerig und flau im Bauch, aber solange er nicht wußte, was als nächstes mit ihm geschah, sah er keinen Grund, auf den Honig zu verzichten.
    Zwischendurch hatte er sich ein wenig in der Magie geübt. Er wollte schließlich nicht den Rest seines Lebens in Ketten verbringen und auf bessere Zeiten hoffen. Er mußte hier verschwinden. Aber es gab sehr viele Aufpasser, sehr viele Feinde, viele Hunderte, vielleicht über tausend. Die durften ihn nicht aufhalten, wenn er floh. Was also war zu tun?
    Er hörte draußen Stimmen, die etwas von »vino« erzählten. Er entsann sich des lateinischen Sprichwortes »in vino veritas« im Wein liegt Wahrheit. Wahrheit konnte ihm nicht unbedingt bei der Flucht helfen, aber Trunkenheit. Als noch einige Male von Wein geredet wurde, wirkte er einen Zauber. Die Ketten ließen ihm genug Bewegungsfreiheit, daß er Zeichen in den Boden malen konnte, und auf seine geflüsterten Beschwörungsformeln achteten die Wächter draußen vor dem Zelt natürlich nicht. Wenn sie den Gnom überhaupt hörten, dann vernahmen sie Worte einer ihnen fremden Sprache, mit denen sie nichts anzufangen wußten.
    Der Gnom verfielfachte den Alkoholgehalt im Wein.
    Die Römer vertrugen das nicht und reagierten wie gewünscht.
    Aber es dauerte noch eine Weile, bis der Gnom den richtigen Zauber fand, um die Ketten zu zerschmelzen, ohne sich dabei selbst zu verbrennen. Ohne daß ihn einer der trunkenen Römer aufhalten konnte, erreichte er den Wall und den Palisadenzaun und kletterte einfach hinüber.
    Wohin er sich wenden sollte, wußte er nicht.
    Er wußte nur, daß er von hier weg mußte. Egal, wohin. Überall sonst wartete die Freiheit auf ihn.
    Er rannte, so schnell seine kurzen Beine ihn trugen.
    ***
    »Bei den Larvae!« stieß Marcus Remigius zornig Hervor, als er auf dem Erdwall ankam und über die Palisaden spähte. Die über die Ebene davonhastende Gestalt war nur noch schattenhaft zu erkennen, vorwiegend der keltisch bunten Kleidung wegen. »Der Kerl entkommt uns!«
    Remus Tiberius schüttelte den Kopf. Er sah sich um; einer der Wachposten, nur einen Steinwurf entfernt, stützte sich mühsam auf die Palisadenspitzen und sah dem Flüchtigen mäßig interessiert nach. »Zu spät«, murmelte er. »Wer auch immer das ist, den holt keiner mehr ein.«
    »Möge Bacchus dein Fürsprecher sein, wenn der Centurio dir die Hammelbeine langzieht«, fauchte Remus und entriß dem Mann den Langbogen und einen Pfeil. Der Bogen war gespannt. Remus war in diesem Moment froh, daß der Kommandant Bogenschützen zur Wache abkommandiert hatte und keine Lanzenträger. So weit zu werfen, ging über seine Kraft und Zielgenauigkeit. Mit dem Bogen dagegen konnte er gut umgehen. Er zog die Sehne so weit aus, wie es die Länge des Pfeils erlaubte, zielte, so gut es ihm in der Dunkelheit möglich war, und schoß.
    Der Pfeil zischte in die Nacht hinaus.
    »Vergebliche Mühe«, sagte Marcus verdrossen, der neben seinen Freund trat. Da hörten sie beide den Aufschrei aus der Ferne. Marcus hob die Brauen und sah seinen Freund überrascht an. »Ich wußte, daß du ein guter Schütze bist, aber so gut…? Fortuna hat dir geholfen, Liebling der Göttin!«
    »Holen wir ihn uns«, sagte Remus und zog dem staunenden Wächter vorsichtshalber noch drei Pfeile aus dem Köcher. »Aber vielleicht sollten wir das Tor nehmen. Ich habe keine Lust, mir beim Sprung die Palisaden hinab den Hals zu brechen.«
    »Du glaubst, er lebt noch?«
    »Auf diese Entfernung hat ihn mein Pfeil vielleicht nur verletzt«, sagte Remus.

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