0515 - Der mordende Wald
gelassen. Wir sind ja schließlich römische Legionäre und keine Barbaren.« Remus ließ den durchsichtigen Topf wieder fallen. Er eilte nach draußen. »Wachen!« brüllte er, so laut er konnte. Die Schlummergestalten vor dem Zelt unterbrachen ihr weinseliges Schnarchen. »Wachen - achtet auf die Tore! Ein Gefangener ist entkommen!«
»Sinnlos«, sagte Remigius. »Die sind doch alle nicht mehr klar im Kopf!«
Er trat hinter Remus Tiberius ins Freie. »Er kann erst vor kurzer Zeit aus dem Zelt geflohen sein. Die geschmolzenen Kettenglieder waren noch heiß. Bei den Larvae, ich möchte wissen, wie er das ohne Hilfsmittel fertiggebracht hat! Vulcanus selbst muß ihm geholfen haben.«
Remus ließ seinen Blick über das Lager schweifen, und im Schein der Wachfeuer glaubte er eine buntgekleidete Gestalt zu erkennen, die eben über die Palisaden turnte. »Wenn es jener dort ist - willst du ihn nicht einfach fragen, mein Freund?«
Fast im gleichen Augenblick begann der Decurio zu rennen. Remus folgte ihm, obgleich ihm sein Verstand sagte, daß das vielleicht nicht gut war. Hatten nicht die Götter selbst sich gegen die Römer verschworen? Jupiter schleuderte Blitze im Wald, um einen keltischen Mörder-Druiden zu schützen, und Vulcanus verhalf einem Gefangenen zur Flucht…
Aber er konnte seinen ältesten und besten Freund im Kampf nicht einfach allein lassen.
***
Derweil suchte der namenlose Gnom sein Heil in der Flucht.
Er fragte sich verzweifelt, warum es schon wieder schiefgegangen war. Seine Berechnungen hatten hundertprozentig gestimmt. Ehe er den Zauber durchgeführt hatte, hatte er ihn mehrere Dutzend Male überprüft; er hatte mit Kieselsteinen und Fröschen experimentiert, und immer hatte es funktioniert. Es hätte auch jetzt funktionieren müssen.
Der Gebieter und der Gnom hätten beide genau dort wieder ankommen müssen, wo sie verschwunden waren -genau in jenem Zimmer im Château Montagne, das der Gebieter spanisch »Castillo Montego« nannte, und genau im Jahr 1673 - oder notfalls auch etwas später. Auf jeden Fall in der richtigen Zeit.
Aber der Gnom mitsamt Honigtopf war alles andere als in Castillo Montego gelandet. Es war eine umzäunte Ansammlung von annähernd quadratischen Zelten und annähernd tumben, befehlsgewohnten Männern in schottenkurzen Röcken, Sandalen, Brustharnischen und Helmen, mit kurzen Schwerten bewaffnet. Ihre Sprache verstand der Gnom nicht, wußte also auch nicht, was sie von ihm wollten, als sie ihn einfingen und in Ketten legten, ohne auch nur eine seiner Fragen zu beantworten. Mehrmals hörte er die Wörter »celtae«, »gallia« und »romana« oder »romanorum«, konnte damit aber herzlich wenig anfangen. Vor allem mißfiel ihm, daß sie ihn einfach in Eisen legten, ohne auch nur ernsthaft den Versuch unternommen zu haben, sich ihm in seiner Sprache verständlich zu machen. Etliche Wörter kamen ihm ein wenig bekannt vor, aber er brachte keinen Sinn in das Geplapper. Aber da sie Schwerter und Rüstungen trugen, nahm er an, daß er doch ein erhebliches Stück weiter in die Vergangenheit verschlagen worden war, als er es beabsichtigt hatte. Konnte es sein, daß es sich bei diesen dummen Kriegern um leibhaftige Römer handelte?
Das würde einiges erklären. Aber es erklärte nicht, weshalb er sich jetzt hier befand, und noch weniger, warum Don Cristofero nicht ebenfalls hier war. Der Gnom vermißte ihn. Der Dicke schikanierte ihn zwar bei jeder sich bietenden Gelegenheit, aber er schützte ihn auch. Der kleine, verwachsene Mann mit der tiefschwarzen Haut war seit seiner frühesten Kindheit ein Ausgestoßener gewesen. Schon allein aufgrund seines fremdartigen Aussehens warf mein Steine nach ihm und verspottete ihn. So hatte er sich der Magie verschrieben, um wenigstens auf diese Weise Anerkennung zu finden - wenn auch vorwiegend bei sich selbst. Denn die Zeiten waren unsicher; schnell war man der Hexerei bezichtigt.
Don Cristofero hatte ihn aufgegabelt und sich seiner angenommen. Er spottete nicht über die Mißgestalt des Schwarzhäutigen, dem seine Eltern nicht einmal einen Namen gegeben hatten, weil sie mit ihm nach seiner Geburt wenig anzufangen wußten. Eher skeptisch hatte Cristofero ihm aufgetragen, Gold zu machen, und der Gnom hatte sich wahrhaftig nach besten Kräften bemüht. Er wunderte sich, mit welcher Geduld der Gebieter immer wieder sein Scheitern und die Fehlschläge hinnahm. Er polterte und schimpfte zwar, aber er war in Wirklichkeit eine Seele von
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