0515 - Der mordende Wald
Kameraden noch nie so erlebt - zumindest nicht im Feldlager. In der Garnison, wenn es Ausgang gab, dann stürmte man die Schänken der Stadt oder verpulverte seine Sesterzen bei den fahrenden Händlern, die nebst allerlei Lebenswichtigem nach Amphoren mit Wein feilboten und manchmal auch das gelbe, vergorene Gerstenwasser, das erst bitter und dann prächtig schmeckte und anderntags einen dicken Kopf machte. Aber im Feldlager herrschte eiserne Disziplin. Ein Becher Wein pro Tag stand dem Legionär zu, den Offizieren natürlich je nach Rang mehr. Aber von einem Becher Wein am Abend wurde man nicht dermaßen volltrunken, wie Remus es hier erleben mußte. Offenbar hatten die Kameraden eine Orgie gefeiert und einen halben Monats Vorrat verbraucht.
Der Spion war bestürzt darüber, daß der Centurio nicht einmal angemessen auf die Todesnachricht von Gaius und Sena reagiert hatte. So etwas durfte nicht sein.
»Heda«, nuschelte plötzlich jemand, der neben ihm aus dem Zelt auftauchte, nur halb bekleidet, aber den Schwertgürtel umgebunden. »Heda, du bischt ein Ke-Kelte. Bleib schte-hicks, ich mu-hupps - dich feschtnehmen.« Er unterstrich dies mit einem kräftigen Rülpser und einem hastig gezogenen Schwert.
Remus seufzte. Er faßte mit beiden Händen zu, bekam Arm und Hand des Betrunkenen zu fassen und lenkte beides so, daß das Schwert wieder in der Scheide landete. »Damit du dich nicht verletzt, Kamerad«, erklärte er.
»Schehr fürschorglich, Kelte«, lallte der Mann. »Wa-warte einen Moment, dann nehme ich dich gefanghicks. Wiehie den anderen. Bleib nur da schtehen, ja?«
Er tappte zum benachbarten Zelt und erleichterte sich in dessen Eingang.
Nur ein Dutzend Herzschläge später flog ihm eine wuchtige Faust entgegen und unterband seine Aktivität. »Hund, versoffener!« brüllte eine Remus wohlbekannte Stimme. »Versau gefälligst deinen eigenen Stall, Schwein!« Marcus Remigius kam zornig ins Freie, um sich näher mit dem armen Teufel zu befassen, stutzte und erkannte im Schein der Wachfeuer Remus in seiner keltischen Kleidung.
»Remus«, ächzte er. »Bei den Göttern, was tust du mitten in der Nacht hier? Ich denke, du bist bei den Helvetiern!«
Der Betrunkene raffte sich umständlich auf. »Verscheiung«, lallte er. »Ich wuschte nich, dasch hicks-hier schon einer ischt. Halt den Ke-Kelten fescht, Ka-Kamerad. Ich musch ihn gefangenne-hicks. Bin gleich wieder…« Er taumelte zum nächsten Zelt weiter, um seinem noch immer dringenden Bedürfnis nachzugehen.
Remus faßte den Freund bei der Schulter. »Marcus, was ist hier geschehen? Ist Bacchus selbst im Castellum eingezogen und hat den Befehl übernommen?«
Remigius schüttelte langsam den Kopf. »Der sicher nicht, Remus. Der Gott kehrt nur dort ein, wo es außer Wein auch hübsche Mädchen gibt. Hier gibt es aber nur häßliche Legionäre. Komm herein.« Er zog Remus in das Zelt, vorbei an der kleinen, unangenehm riechenden Lache, die sich im Eingang gebildet hatte.
Marcus Remigius besaß einige Privilegien, weil sich seine Kampfgruppe in bisher jeder Schlacht durch besondere Erfolge ausgezeichnet hatte; manch einer murmelte argwöhnisch, die Götter hätten Remigius und seinen Männern Unsterblichkeit verliehen. Das stimmte natürlich nicht; sie waren nur sehr gut geschult, sehr schnell und sehr vorsichtig. Remus wunderte sich nicht darüber, seinen Freund nüchtern zu sehen. Remigius trank niemals Wein.
Sie waren Haustür an Haustür aufgewachsen, hatten gemeinsam anderen Streiche gespielt, hatten dieselben Mädchen verführt und waren gemeinsam zum Militär gegangen. Remus Tiberius war einfacher Legionär geworden; Marcus Remigius hatte man sehr bald zum Decurio gemacht. Marcus hatte es abgelehnt, Remus in seine Elitetruppe aufzunehmen. »Wir waren Freunde und sind es auch weiterhin. Ich will nicht dein Vorgesetzter sein und dich in den Tod hetzen müssen, falls es sein muß.« So spielte der Rangunterschied zwischen ihnen kaum eine Rolle, weil Remus nicht Marcus’ direktem Befehl unterstand.
»Ich verstehe es auch nicht«, sagte der Decurio. »Niemand hat mehr getrunken als sonst auch, und doch sind sie alle berauscht und von Sinnen. Dabei haben wir alle keinen Grund, uns zu betrinken und fröhlich zu sein. Der Schuldenmacher schickt uns nach Bibracte. Es ist ein Trick. Die Helvetier sind bisher dem Kampf ausgewichen. Caesar will sie aber zum Kampf zwingen. Angeblich hat Diviciacus römische Hilfe erbeten.«
»Diviciacus? Ein Gallier?«
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