0515 - Schreie aus dem Werwolf-Brunnen
kaum auf die Spur kommen können. Das aber brauchen wir auch nicht. Er wird von allein kommen.«
Li war erstaunt. »Zu uns, Ho Chan?«
»Ja, zu uns.«
»Es gibt viele Menschen hier in Fillingrow. Warum soll er sich gerade uns aussuchen?«
»Weil er uns haßt.«
»Die Bestie haßt uns?« Li lachte falsch. »Das muß einen Grund haben. Wir haben ihr nichts getan.«
»Doch. Li. Überlege. Hinter jeder Bestie steckt ein Mensch. Wenn es ein Wolf sein sollte, der sich bei Vollmond in dieses Tier verwandelt, muß er zuvor ein Mensch gewesen sein. Ich kenne einen, der uns so sehr haßt, daß er uns den Tod wünscht.«
»D.C. Redburn.«
»So ist es.«
Li hatte seine Schmerzen im Arm vergessen, die Unterhaltung war einfach zu interessant geworden. »Und du meinst, daß er der Werwolf ist? Daß sich hinter ihm…«
»Ja, Redburn ist es. Und ich weiß auch, daß er kommen wird. Vielleicht in einer Minute, vielleicht in einer Stunde. Wir sollten uns darauf vorbereiten. Wo sind die anderen?«
»Noch unten im Schacht.«
»Bitte hole sie her. Schaffst du das?«
»Natürlich, Ho Chan, natürlich…« Li machte kehrt und verließ das Zimmer.
Mit seinen Gedanken, Vorstellungen und Träumen allein gelassen, blieb der alte Ho Chan zurück.
Was Li nicht ahnte, war, daß er bewußt fortgeschickt worden war.
Ho Chan ging davon aus, daß sich die Bestie bereits in der Nähe befand. Sogar im Haus, und er wollte dem verletzten Li die Chance zum Überleben geben.
So wartete er.
Eine Minute verging, eine zweite.
Der alte Ho Chan saß unbeweglich auf seinem Platz. In dieser Haltung glich er einem Menschen aus Stein. Nicht einmal die Augendeckel bewegten sich. Er war völlig in sich gekehrt und dachte an Dinge, die nach dem normalen Leben auf ihn zukommen würden.
Es war der Tod…
Er schreckte den alten Mann nicht, dafür aber erschreckte ihn etwas anderes.
Es war eine gedankliche Warnung. Er spürte mit all seinen Sinnen, daß etwas Fremdes das Haus betreten hatte. Es war von draußen aus der Kälte gekommen und lauerte in der Nähe.
Ho Chan schaute zur Tür.
Sie stand offen und bildete in der Wand ein hochkant gestelltes Viereck. Das Licht reichte so weit, daß es dieses Viereck schwach ausfüllte. Die nächste Flurleuchte war einfach zu weit entfernt.
Er kam.
Er bewegte sich lautlos, er war schon im Flur, ein gewaltiger Schatten, dessen mächtiger Schädel fast unter der Decke herstreifte, als er auf die Tür zuging.
In diesem Zimmer wartete sein Opfer…
Über sein häßliches Gesicht lief ein hartes Zucken. Er bewegte auch sein Maul. Das Weiß der schimmernden Reißzähne stach deutlich vom dunklen Fell ab.
Augen kalt wie Monde leuchteten in diesem häßlichen Gesicht.
Dann war er da!
Auch jetzt zuckte Ho Chan nicht einmal mit dem Augenlid, als er die Gestalt in der offenen Tür stehen sah. Sie war sehr breit, reichte fast bis an den oberen Rand und sah aus, als würde sie noch einen Mantel aus Fell tragen.
Den hatte D. C. Redburn jedoch vor seiner Verwandlung abgelegt.
Das Fell war ihm gewachsen, aus der Haut gesprossen und bildete einen sehr dichten Pelz.
Er starrte aus den kalten, gefühllosen Augen in den Raum und auf sein Opfer.
Ho Chan wußte, daß ihm der Tod gegenüberstand. Nicht als Skelett mit Sense und Stundenglas, er war in Gestalt eines Werwolfs gekommen, einer verfluchten Bestie.
Ho Chan sprach den Werwolf an. »Komm herein«, sagte er, »komm zu mir. Ich habe dich erwartet.«
Sprechen konnte die Bestie nicht. Sie hatte wohl verstanden und gab dies durch ein zischendes Fauchen zum Ausdruck. Dann ging er vor. Er schritt nicht wie ein Mensch, sondern bewegte beim Vorgehen seine Schulter, er rollte sich praktisch in den Raum hinein, schaute sich um und öffnete sein Maul.
Schneeweiß glänzte das gefährliche Gebiß. Damit würde er töten können. Mit einem Schlag seiner Kiefer und einem entsprechenden Prankenhieb.
Ho Chan tat nichts. Auch nicht, als der Werwolf schräg zu ihm ging und gegen die Flammen der Kerzen starrte. Er schlug seine Pranke vor und umklammerte eine Kerze, die er aus dem Halter riß und sie dann zusammendrückte.
Als Klumpen schleuderte er sie zu Boden, fauchte auf und trat plötzlich das Kissen zur Seite, auf dem Ho Chan saß. Der verlor das Gleichgewicht. Sein magerer Körper kippte zu Boden, und über ihm baute sich die Bestie wie eine gebogene Brücke auf.
Dann griff sie zu.
Sie riß den alten Chinesen in die Höhe. Er sah die Fratze dicht vor sich, erwartete den
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