052 - Die Leichenkammer des Dr. Sarde
lauschte auf etwaige Geräusche in den
angrenzenden Abteilen. Aber alles war ruhig. Offenbar waren sie die beiden
einzigen Fahrgäste, zumindest in diesem Wagen.
Sie sehnte sich plötzlich danach, dass der Kontrolleur aufkreuzen möge.
Aber bei den zahlreichen Fahrten, die sie schon mit der Metro gemacht hatte,
war um diese späte Stunde noch nie ein Kontrolleur aufgetaucht.
Das Gespräch wurde genauso abrupt abgebrochen, wie es begonnen hatte.
Der merkwürdige Alte blickte minutenlang aus dem Fenster.
Michele Claudette beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Sein Gesicht war
meistens im Schatten. Sie konnte schlecht schätzen, wie alt ihr Gegenüber etwa
sein mochte.
Der Alte fuhr drei Stationen. Dann griff er unter die Sitzbank, zog die
Reisetasche hervor und ging zum Ausstieg.
Die Linie 9 hielt in diesem Augenblick unter den Champs-Élysées.
Mit einem dumpf dahingemurmelten Gute
Nacht und schöne Weiterfahrt verabschiedete sich der Mann. Er lüftete aber
nicht den Hut.
Als der Zug anfuhr, sah Michele Claudette aus dem Fenster, dass der Alte
die breiten Treppen hochstieg und dann den Gang benutzte, der zur Kreuzung
führte, an der die Linie 1 verkehrte. Von dort aus konnte er entweder nach
Neuilly oder Viencennes weiterfahren.
Die grazile Französin atmete auf. Sie fühlte sich jetzt, allein, wieder
bedeutend wohler.
Als der Zug anfuhr, griff sie mechanisch nach einem anderen Magazin und
vergaß die Episode.
Doch sie sollte nicht zu Ende sein.
Unter dem Sitz, ihr gegenüber, stand eine Reisetasche. Es war die des
merkwürdigen Alten. In der Eile hatte er sie mit der von Michele Claudette verwechselt.
Die junge Französin ahnte davon noch nichts ...
●
Jean Ecole hatte es fertiggebracht, mit seiner Heiterkeit und seinen
Scherzen den Abend zu retten. Man trank Champagner, hörte sich Schallplatten
an, tanzte und ging zwischendurch hinaus auf den Balkon und schnappte frische
Luft.
Ecole hatte versprochen, dass sein Freund Maurice noch käme. Es sei da
unerwartet etwas dazwischengekommen. Gegen Mitternacht würde Gudeau eintreffen.
In der Zwischenzeit hätte er, Ecole, die keineswegs unangenehme Aufgabe, sich
um beide Damen zu kümmern.
Er entledigte sich dieser Aufgabe mit Bravour.
Einmal tanzte er mit Mireille, einmal mit Françoise. Dabei trieb er auch
ständig und unbemerkt seinen Plan voran. Er sorgte dafür, dass Françoise mehr
trank als Mireille, und er ging auch öfter mit ihr an die Bar um zwischendurch
einen Kurzen einzuschenken. Das tat er mit Mireille nicht. Und es war, als ob
die Blondine dieses stillschweigende Spiel mitspielte. Die Blicke, die sie
miteinander wechselten, sprachen für sich. Es bedurfte nicht mehr vieler Worte.
Mireille beobachtete Françoise und Jean Ecole vom Balkon her. Françoise
hatte schon Mühe auf den Beinen zu stehen. Sie fiel Jean um den Hals. Er
schleppte sie hinaus auf den Balkon und setzte sie kurz entschlossen auf die
bequeme Liege.
Françoise seufzte: »Ich fühle mich herrlich ... Jean ...«, murmelte sie.
Ihre Stimme hatte nicht mehr den festen Klang. Die junge dunkelhaarige
Französin breitete die Arme aus und lehnte sich zurück. »Du tanzt wunderbar –
ich – ich glaube, dass ich erst ein wenig ausruhen muss, Cheri – nachher, wenn
Maurice kommt – dann bin ich nicht mehr fähig, auf den Beinen zu stehen. Und
ich habe ihm doch auch versprochen, mit ihm zu tanzen – ich glaube, Cheri ...«
Sie lachte leise vor sich hin, und Jean und Mireille stimmten in dieses Lachen
mit ein.
Es dauerte eine geraume Weile, ehe die betrunkene Françoise wieder aufhörte
zu lachen.
»Oh, Cheri – Cheri – ich glaube, ich habe einen kleinen Schwips.« Jan Ecole
nickte. »Ja, das glaube ich auch.«
»Aber – ich bin nicht betrunken ...«
Francoises Miene wurde ernst. Sie sah ihren Liebhaber aus großen Augen an.
»Nein, das bist du nicht«, redete Ecole ihr sofort gut zu, und seine Blicke
begegneten denen Mireilles. Die Blondine lächelte ironisch. Für den Bruchteil
eines Augenblicks entdeckte Ecole einen Ausdruck auf ihrem Gesicht, der ihn
erschreckte und den er nicht deuten konnte. Überheblichkeit, Stolz,
Selbstbewusstsein – diese Begriffe schossen ihm im ersten Moment durch den
Kopf. Aber sie bezeichneten nicht das, was ihr Blick, ihr Gesicht in diesem
Sekundenbruchteil wirklich ausdrückten. Es war etwas anderes – aber er konnte
es nicht definieren. Gleich darauf dachte er auch nicht mehr daran. Mireilles
Augen lachten ihn an. Sie
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