052 - Die Leichenkammer des Dr. Sarde
Augenblick nicht anders. Er stellte sie sich im
Bikini vor. Das Ergebnis sprach für sich: Mireille war eine
Badestrandschönheit, mit der man den nächsten Urlaub verbringen konnte.
»Wir unterhalten uns später weiter«, kam es über seine Lippen, ohne dass er
es eigentlich wollte. Schon als Françoise ihm heute Abend die Freundin
vorgestellt hatte, war ihm das Fluidum dieser ungewöhnlich schönen jungen Frau
aufgefallen. Doch mit jeder Minute, die sie länger in seinem Haus war, schien
sich die Luft mehr mit ihrem Parfüm und ihrem Sex aufzuladen.
Als er zum Lift ging, dachte er verzweifelt darüber nach, wie er Françoise
loswerden könnte.
In diesem Augenblick wünschte er sich sogar, dass sein Freund und Partner
Maurice Gudeau wirklich irgendwo in einer Kneipe hockte und ein paar zu viel
über den Durst getrunken hatte ...
Er brauchte bis zur Leichenhalle zehn Minuten. Tagsüber hätte er für die
gleiche Strecke mehr als doppelt so viel Zeit benötigt. Doch der Verkehr um
diese späte Stunde war erträglich. Rasch kam er voran.
Er konnte die Halle betreten, ohne auf den Friedhof zu müssen. Das kleine,
graue Gebäude schien ein Teil der Mauer zu sein. Jean Ecole kniff die Augen
zusammen, als er auf der anderen Straßenseite, ein wenig auf dem Bürgersteig,
das dunkle Fahrzeug sah. Maurices Wagen !
Er ging die Mauer entlang und sah durch die winzigen vergitterten Fenster
der Leichenhalle den schwachen gelblichen Lichtschein.
Es durfte nicht wahr sein!
Jean Ecole presste die Lippen zusammen. Maurice befand sich noch immer bei
der Arbeit. Der Schlüssel zur Tür steckte!
Ecole schüttelte den Kopf. Aber seine Überraschung war noch größer, als er
in die dämmrige Halle kam – und feststellte, dass niemand anwesend war.
Ecole sah den vernagelten Sarg. In ihm lag Edith Liron, ein junges Mädchen
von zweiundzwanzig Jahren. Sie hatte Selbstmord begangen, nachdem es kurz zuvor
zu einem Streit mit ihrem Verlobten gekommen war. Nach Feststellungen der
Polizei hatte ihr Verlobter, ein eifersüchtiger, jähzorniger Bursche, ihr
während des Streites eine ätzende Säure ins Gesicht geschüttet. Edith Liron,
ein attraktives, ungewöhnlich schönes Mädchen hatte danach fürchterlich
ausgesehen. Sie hatte ihren eigenen Anblick im Spiegel nicht mehr ertragen.
Noch ehe man sie ins Krankenhaus hatte bringen können, nahm sie bereits ein
rasch wirkendes Pflanzenschutzmittel.
Die Eltern der Verstorbenen hatten veranlasst, die Tote sofort einzusargen
und sie den Trauergästen vor der Beerdigung, wie es allgemein üblich war, nicht
mehr zu zeigen. Die Hinterbliebenen sollten das schöne Mädchen so in Erinnerung
behalten, wie es zu seinen Lebzeiten ausgesehen hatte.
Mit einer mechanischen Bewegung hob Jean Ecole den Sarg ein wenig hoch. Am
Gewicht erkannte er, dass Edith Liron eingesargt war.
»Maurice?«, rief er leise. Doch es klang lauter in der stillen Halle, als
er vorgesehen hatte. Er sah sich in den Ecken und Nischen um. Keine Spur von
seinem Geschäftspartner. Mit zusammengepressten Lippen knipste Ecole das Licht
aus, verschloss die schwere Tür hinter sich und zog den Schlüssel ab.
Für den Bruchteil einer Sekunde spielte er mit dem Gedanken, die Allee
hinunterzugehen. An der nächsten Straßenecke, etwa fünfhundert Meter von diesem
stillen Ort entfernt, stand bereits das erste Bistro. Vielleicht hatte Gudeau
es sich dort gemütlich gemacht. Vielleicht aber war er auch schon angesäuselt
gewesen, noch bevor er den Sarg fertig machte. Egal wie es auch gewesen sein
mochte: er hatte kein Interesse daran, Gudeau jetzt in den Bistros und Kneipen
der näheren Umgebung zu suchen.
Morgen früh im Büro allerdings würde es wohl oder übel zu einem ernsthaften
Gespräch kommen ...
Zu Hause warteten Françoise und Mireille. Seine Gedanken beschäftigten sich
mit der Verführerischeren von beiden.
Es war, als hätte er noch nie zuvor eine Frau im Arm gehalten, wenn er an
Mireille dachte. Die Blondine mit dem schulterlangen Haar berauschte seine
Sinne.
Er setzte sich hinter das Steuer seines Wagens, nachdem er festgestellt
hatte, dass Maurice Gudeau sein Auto ordnungsgemäß abgeschlossen hatte. Ein
kaum merkliches Lächeln stahl sich plötzlich auf Ecoles Lippen.
Die Nacht mit Mireille würde ihm gehören. Die Schwierigkeit bestand jetzt
nur noch darin, Françoise auf eine charmante Art loszuwerden.
Aber er hatte bereits eine Idee ...
●
Sie nahm wie stets die Linie 9 der Metro, um nach Hause zu
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