052 - Die Schlangengrube
dass ich dem Jungen etwas antun wollte?«, rief die alte Zarina empört. »Er hat seine Eltern verloren. Ich wollte herausfinden, wo sie sind.«
Das kannst du jemand anderem erzählen. Es ist schon genug passiert. Dieser Junge wird nicht spurlos verschwinden und nur eine Blutlache zurücklassen.
»Also, da hört sich doch alles auf!«, empörte sich Zarina. »Mit diesen Sachen habe ich ganz gewiß nichts zu tun. Eine Unverschämtheit ist es, so etwas zu behaupten. Man sollte besser einmal dich überprüfen, Lucia. In einem meiner Wahnträume habe ich gesehen, wie eine von deinen Schlangen ein fremdes Kind verschlingt. Es könnte auch dieser Junge gewesen sein. Vielleicht hast du ihn hergelockt und wolltest ihn dir holen, aber ich habe ihn zum Glück vorher gefunden.«
Lucia machte ein paar Zeichen mit den Fingern.
Die Klapperschlange stieß zu und verfehlte die Alte nur um Haaresbreite.
»Martin!«, rief eine helle Frauenstimme in diesem Augenblick. »Martin, wir haben uns solche Sorgen gemacht!«
Ein junger Mann und eine junge Frau kamen über den Rummelplatz. Der Junge riss sich aus Zarinas Griff. Er lief weinend zu seinen Eltern und warf sich in die Arme seiner Mutter. Sie hob ihn hoch, obwohl er mit seinen sieben Jahren schon recht schwer war.
»Martin«, schluchzte sie immer wieder. »Martin.«
Der Vater kam näher heran, ein einfacher Mann mit einem Trenchcoat und einem schmalen Gesicht.
»Was habt ihr mit meinem Jungen gemacht?«, fragte er die alte Frau und das junge Mädchen. Voller Abscheu musterte er die Schlange, die um Lucias Hals geringelt war.
Matteo Amalfi trat hinzu. Er hatte auf der Treppe des Amalfi-Wohnwagens gestanden und den letzten Teil der Szene beobachtet.
»Was hat das Kind um diese Zeit noch auf dem Rummelplatz zu suchen?«, fragte er in hartem Ton. »Sind Sie nicht recht bei Trost?«
Der Mann mit dem Trenchcoat begann eine weitschweifige Erklärung. Er war mit seiner Frau und seinem Sohn zu Besuch bei Verwandten in Hampstead. Sie hatten andere Verwandte besucht. Es war später geworden, als beabsichtigt, und auf dem Heimweg waren sie quer über den Rummelplatz gelaufen. Dabei hatte der Junge sich davongemacht. Sie hatten geglaubt, er sei schon zum Haus der Verwandten vorausgelaufen.
»Passen Sie nächstens besser auf Ihr Kind auf!«, sagte Matteo finster. »Seien Sie froh, dass Zarina ihn unter ihre Obhut genommen hat!«
»Ich wollte in meiner Kristallkugel nachsehen, wo die Eltern des Jungen sind«, verteidigte sich die Alte. »Ich habe nur das Beste gewollt.«
»Und die da mit der Schlange?«, fragte der Mann. »Wenn das Vieh nun den Jungen gebissen hätte? Die sollte man einsperren und die Schlange totschlagen.«
»Hüten Sie Ihre Zunge!«, brauste Matteo auf. »Dieses Mädchen ist meine Schwester. Die Schlange ist absolut harmlos. Es ist eins ihrer Lieblingstiere.«
Einer von Matteos Brüdern trat hinzu. Der Mann mit dem Trenchcoat wollte noch etwas sagen, aber seine Frau zog ihn am Ärmel weg. Sie redete halblaut auf ihn ein.
»Das sind Zigeuner«, hörten die vier bei Zarinas Wohnwagen. »Mit denen legt man sich besser nicht an. Denen sitzen die Messer locker.«
»Rabeneltern!«, sagte Matteo laut und spuckte auf den Boden.
Die Eltern verschwanden mit ihrem Jungen im Nebel. Nur wenige Lampen brannten noch auf dem Rummelplatz. Die Buden und Vergnügungsstände waren allesamt geschlossen.
Matteo musterte die alte Zarina und die schöne junge Lucia. »Ich glaube fast, dieser Junge hat großes Glück gehabt. Es ist eine Schande, was in dieser Sippe vorgeht. Nicht einmal seiner eigenen Schwester kann man mehr trauen.«
Aber Matteo, du wirst doch nicht glauben, ich hätte etwas Böses gewollt? , übermittelte ihm Lucia in der Zeichensprache.
Matteo winkte barsch ab und ging weg.
Dorian Hunter fuhr am nächsten Vormittag gegen zehn Uhr mit dem Rover aus der Garage der Jugendstilvilla. Er wollte zu den Amalfis. Dorian hatte unter dem Hemd eine gnostische Gemme an einer Silberkette um den Hals hängen. Sie bestand aus einem Halbedelstein und zeigte eine Schlange, die sich selber in den Schwanz biss.
Gnostische Gemmen waren wichtige Hilfsmittel im Kampf gegen die Dämonen. Wunder durfte man sich allerdings auch nicht von ihnen erwarten. Dorian hatte sich in der letzten Zeit angewöhnt, die gnostische Gemme fast ständig zu tragen. Die Erfahrungen des letzten Tages hatten ihm wieder gezeigt, dass er auch bei einer anscheinend harmlosen Rummelplatztour in eine Situation
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