0529 - Der Würgeadler
Reich, von dem die Menschen träumten, und es war das Land der gefallenen Engel, in das auch Shakespeare angeblich einen Blick hineingetan hatte.
Es war damals entstanden, als es zu Beginn der Zeiten die große Trennung zwischen Gut und Böse gegeben hatte. Aibon war ein Zwischenreich, es lag in der Mitte zwischen Himmel und Erde.
Manche bezeichneten es als Fegefeuer, was den Kern nicht so traf.
Jedenfalls war es dem Dunklen Gral gelungen, den Weg von der Erde her in dieses Reich zu öffnen.
Suko und ich kannten es. Wir hatten uns dort sehr wohl gefühlt, aber auch Schrecken erlebt, denn Aibon gehörte zu den Reichen mit den zwei Gesichtern.
Wir hatten Freunde in Aibon. Wichtige Freunde. Miriam di Carlo, die Wissende. Die Seherin oder den Roten Ryan, den Mann mit der Flöte, der durch seine Melodien die Lebewesen beeinflussen konnte.
»Hättest du das gedacht?« fragte Suko.
»Nie.«
Paul Grenier hatte unser Gespräch gehört. »Dann wissen Sie vielleicht, wo wir sind?«
»Nicht nur vielleicht. Dieses Land, in dem wir uns jetzt befinden, heißt Aibon.«
»Wie bitte?«
Ich wiederholte den Namen.
»Und wo liegt dieses Aibon? In Europa bestimmt nicht. Ich hätte davon gehört.«
»Bestimmt nicht in Europa.«
»Wo dann?«
»Zwischen den Zeiten, Monsieur Grenier.«
»Was?« Er lachte und ging einen Schritt zurück. »Das ist doch nicht möglich, das haben Sie sich ausgedacht.«
»Nein. Aber lassen wir das. Ich werde dieses Haus jetzt verlassen und versuche, einen Kontakt herzustellen.«
»Mit dem Würgeadler?«
»Wenn es ihn noch gibt, ja.«
Er hob die Schultern. Eine Geste, die ich sehr gut verstehen konnte. Ich ließ ihn und die übrigen Greniers im unklaren, als ich die Tür öffnete und hinaus in die völlig andere Welt trat. Kein Winter mehr, dafür warme Frühlingsluft. Blühende Birken in einem kleinen Tal, das mehr einer Mulde glich.
Nicht weit entfernt glitzerte ein kleiner Bach. Sein Murmeln wurde von einem anderen Geräusch übertönt.
Es war das Spiel einer Flöte.
»Der Rote Ryan«, sagte Suko, der hinter mir das Haus verlassen hatte.
Wir waren beide gespannt, denn wir glaubten daran, daß der Rote Ryan eine Botschaft für uns hatte.
Er tauchte auf. Das Spiel seiner Flöte hatte uns akustisch die Richtung gewiesen. Wir blickten nach links, wo er hinter einer wild wachsenden Hecke hervortrat.
Wie immer leuchtete sein Haar in einem kräftigen Rot. Sommersprossen verteilten sich auf seinem Gesicht. Er war einfach gekleidet. Hose und Jacke schienen aus Flicken und Pflanzenresten zusammengenäht worden zu sein. So konnte man sich einen Papageno in der ›Zauberflöte‹ vorstellen.
Als er nahe genug an uns heran war, stoppte er sein Spiel und ließ die Flöte sinken.
»Willkommen«, sagte er.
Wir nickten ihm zu. »Hast du uns gerettet, Ryan?«
»Ich nicht. Es war das Land, denn du hast es gerufen.« Er deutete auf den Gral. »Ich freue mich, daß du ihn bekommen hast. Lange genug hatte es gedauert, er hat dir den Weg zu uns geöffnet. Wir spürten die Gefahr und griffen ein.«
»Was ist mit dem Adler?«
»Wir holten ihn zurück.«
»Was sagst du?«
»Ja, er stammte eigentlich aus unserer Welt. Ihm ist die Flucht gelungen, doch wir durften ihn nicht bei den Menschen lassen. Irgendwann würde er töten, denn er stammte aus dem Teil des Landes, auf den wir nicht stolz sind.«
»Und dorthin ist er wieder zurückgekehrt?«
»Er wird auch dort bleiben.«
Ich wischte über meine Stirn. »Dann bin ich beruhigt, bis auf eine Kleinigkeit. Der Adler hat noch jemand mitgenommen, wie du sicherlich weißt. Es ist Vincent van Akkeren, ein Mensch, der immer zu unseren Feinden zählte.«
»Auch er lebt.«
»Gib ihn mir zurück. Ich will ihn mitnehmen. Er muß vor ein irdisches Gericht gestellt werden.«
Der Rote Ryan schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte er. »Dieser Mensch bleibt bei uns. Wir behalten ihn.«
»Wo befindet er sich?«
»Im anderen Teil des Landes. Wenn du genau achtgibst und lauschst, kannst du ihn hören.« Der rote Ryan drehte sich und deutete über den Bachlauf hinweg.
Entfernungen existieren auch in Aibon. Nur anders als in unserer Welt. Da können Dimensionen zusammenschmelzen. Was fern ist, kann auch gleichzeitig nah sein.
Wir lauschten.
Und dann hörten wir es.
Schreie, fürchterliche Laute. Grell und stöhnend. Jammernd und gleichzeitig schrill.
Ich bekam eine Gänsehaut, was der Rote Ryan merkte. »Kümmere dich nicht um ihn. Dieser Mensch hat das Schicksal
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