0529 - Der Würgeadler
Schritt, dann stand er im Halbdunkel des niedrigen Gebäudes, durch dessen kleine Fenster an beiden Seiten nicht sehr viel Licht drang.
Rechts und links standen die Kühe. Der Mittelgang teilte den Stall in zwei Hälften.
Mit sachkundigem Blick stellte Grenier fest, daß es Zeit wurde, ihn auszumisten. Bei diesem Wetter aber wurden selbst die normalen Kleinigkeiten zu einem Problem.
»Wer ist da?« Eine Stimme klang ihm entgegen. Sie war aus dem Hintergrund des Stalls gedrungen.
Grenier kannte den Sprecher. Es war der fast neunzigjährige Piccé, der auf einer Kiste hockte, seine magere Gestalt in einen alten Mantel gehüllt hatte und Pfeife rauchte. Das Gesicht des Mannes war ein Muster aus Runzeln und Falten, in dem der Mund und die Augen kaum auffielen. Er nickte Grenier zu.
»Ach du bist es.«
»Oui.« Grenier setzte sich auf eine andere Kiste. Sie stand der ersten direkt gegenüber.
»Wolltest du auch mal nach den Tieren schauen?«
»Sicher.«
»Das war auch gut so. Der Stall müßte ausgemistet werden.«
»Ich weiß. Was tust du hier?«
Piccé stopfte mit einem Finger den glühenden Tabak tiefer in den Pfeifenkopf und hob die Schultern. »Was ich hier mache, ist schnell gesagt. Ich fühle mich hier wohl. Im Stall ist es warm. Außerdem liebe ich die Tiere.«
Er wußte, wovon er sprach. Piccé hatte bereits als kleiner Junge Kühe gehütet und war praktisch zwischen ihnen aufgewachsen. Er hatte nie geheiratet, war stets Knecht und Viehhirt gewesen und wartete jetzt auf den Tod, wie er zu sagen pflegte.
Grenier tastete wieder nach der Kopfwunde. Sie blutete noch immer.
»Was hast du gemacht?« fragte Piccé.
»Ich nichts. Es waren Vögel.«
»Wie?«
»Sie griffen mich an. Gar nicht mal weit vom Stall entfernt. Raben und Krähen.«
Piccé schaute ihn an. Er hatte die Augen weit geöffnet. Jetzt sah man sie auch. Sie wirkten wie kleine, blasse Teiche innerhalb der zahlreichen Runzeln und Falten.
»Es stimmt.«
»Ich glaube dir ja, Jacques, klar. Mich wundert es nur, daß dich die Vögel angegriffen haben.«
»Da sagst du was. Sie sind eigentlich harmlos.«
»Zumindest sollten sie das sein…«
Grenier war bei der letzten Antwort aufmerksam geworden. »Du sagst das in einem so komischen Unterton.«
»Du hast gute Ohren, Jacques.«
»Klar, ich bin auch einige Jahre jünger. Aber wieso hast du so komisch gesprochen?«
»Irgendwie habe ich das Gefühl, als würde etwas in der Luft liegen.« Er senkte seine Stimme. »Etwas Böses…«
»Ja, Schnee!«
»Unsinn, Jacques, kein Schnee. Ein alter Fluch, etwas Teuflisches. Verstehst du?«
»Nein.«
»Die Vögel sind der Anfang. Sie zeigen, daß etwas auf uns zukommt. Irgendwas.«
Grenier grinste, obwohl ihm nicht danach zumute war. »Wer sollte denn kommen?«
»Weiß ich nicht.«
»Du lügst, Piccé!«
Der Greis lachte kichernd wie ein junges Mädchen. »Ja, vielleicht, aber ich habe die Schatten gesehen.«
»Wieso?«
»Die Schatten des Bösen. Oder die Schwingen, ganz wie du willst, mon ami.«
»Schwingen?«
»Du kennst die alte Legende?«
Grenier winkte ab. »Wer glaubt denn an so etwas. Das ist der Riesenadler, der angeblich im Berg versteckt liegt und irgendwann wieder freikommen wird.«
»So ist es auch.«
»Nein, das nimmt dir niemand ab, Piccé.«
»Warte, Grenier, warte nur. Ich habe dich nicht ohne Grund davor gewarnt, das sage ich dir.«
Jacques spürte wieder die Stiche auf seinem Kopf. Das hinderte ihn daran, dem Alten zu widersprechen. »Meinst du wirklich, Piccé?«
»Oui!« Er nickte und holte aus seiner Manteltasche eine angebrochene Flasche Rotwein. Er zog den Korken hervor und schaute versonnen auf die Öffnung. »Ich war mein ganzes Leben draußen in der freien Natur. Ich habe, wie ich immer zu sagen pflege, mit ihr geredet. Ich habe versucht, ihr Geheimnisse zu entlocken. Und die Natur läßt sich nicht betrügen. Die hat etwas in sich, das kann man einfach nicht übergehen. Laß es dir gesagt sein, mein Freund.«
»Aber dieser Adler…«
Piccé winkte ab. »Er kann uns alle fressen, das sage ich dir. Wenn es mal so weit ist, wird er über uns kommen und das Grauen bringen. Keiner kann uns retten.«
»Was hat der Adler dann mit den Krähen zu tun?«
Der Alte nahm vor seiner Antwort erst einen Schluck. »Kann ich dir sagen, Jacques. Die Krähen sind die Vorboten. Sie haben uns gewissermaßen gewarnt vor den Dingen, die auf das Dorf zukommen werden. Wenn die Berge ihr Geheimnis freigeben, schaffen wir nicht
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