0529 - Der Würgeadler
weggezogen worden. Nur stimmte das nicht. Wir standen noch auf dem Fußboden. Dafür schwebte das Haus, das der Adler mit seinen gewaltigen Kräften in die Höhe zog…
***
Es war ein nicht zu beschreibendes Gefühl. Vielleicht zu vergleichen mit einem Floß, mit dem wir auf den Wellen schaukeln. Ich hatte mich automatisch breitbeinig hingestellt, um nicht den Halt zu verlieren.
Den anderen erging es ebenso. Auch sie nahmen die Haltung ein und schauten sich gegenseitig entsetzt an. Zu begreifen war dieser unheimliche Vorgang nicht.
Auch wir hatten da unsere Schwierigkeiten, doch es hatte keinen Sinn, zu klagen. Wir mußten uns damit abfinden, in der Gewalt des Würgeadlers zu stecken.
Ich schielte zum Fenster. An der Außenseite glitten die weißen Schneehügel vorbei, so langsam, als würden sie von einem Kran gezogen, dabei befanden wir uns in Bewegung.
Pierre fand als erster die Sprache zurück. Er fing plötzlich an zu lachen. »Irre«, sagte er, »einfach irre. Wenn man das einem erzählt, der hält dich für verrückt.«
»Sei ruhig, Junge!«
»Ach, Mama, ist wahr. Wir werden von einem Riesenvogel hochgehoben. Wie hoch, frage ich dich?«
Niemand konnte ihm eine Antwort geben, deshalb wandte er sich an Suko und mich. »Wissen Sie es denn? Was ist hier los? Weshalb gerade wir? Was haben wir dem verfluchten Adler getan?«
»Gar nichts, mein Junge«, sagte ich.
»Dann tragt ihr die Schuld. Wärt ihr nicht gekommen…« Er sprach nicht mehr weiter, weil auch er das Knacken über unseren Köpfen vernommen hatte.
Wir verhielten uns ruhig. Etwas polterte auf den Boden des Speichers, dann knackte es wieder.
Pierre versuchte ein Grinsen. Es wurde nur eine Grimasse. Ich wollte wissen, wie hoch wir mittlerweile waren. Meiner Schätzung nach schwebten wir bereits über dem Ort.
Die Gewißheit, zusammen mit dem Haus zu schweben, ließ auch mich nicht los. Ich ging nicht mehr normal, sondern kam mir vor, als würde ich auf rohen Eiern laufen. So ähnlich bewegte ich mich auf das Fenster zu und schaute hinaus.
Wir hatten ungefähr die Höhe des Kirchturms erreicht!
Tief unter uns stand der Renault. In ihm hockte van Akkeren, der wieder die Scheibe nach unten gekurbelt und den Kopf aus dem Fenster gestreckt hatte. Er suchte den Adler, rief ihm sogar etwas zu.
Die Worte konnte ich leider nicht verstehen, ich sah nur, wie van Akkeren den Mund aufriß.
Nach wie vor bewegte der Adler die Schwingen, auch als er jetzt den Kopf senkte und ihn dem Boden entgegenstreckte.
Ich war von dieser neuerlichen Szene so mitgerissen, daß ich kaum merkte, wie die Greniers und auch Suko zu mir kamen, sich neben mich stellten und ebenfalls aus dem Fenster starrten.
Der Kopf des Adlers war gewaltig. Wir konnten auch sein rechtes, starres Auge sehen, dessen große Pupille eine unheilvolle schwarze Farbe besaß, jedoch von einem hellen Gelb umrandet wurde.
Hinzu kam der Schnabel!
Er erinnerte mich an eine tödliche Schere, die aufgeklappt war.
Hart, wie geschliffen, und auch gefährlich wirkte er. Während er den Kopf senkte, riß er den Schnabel auf, als wollte er etwas fressen.
In den Schnee würde er ihn sicherlich nicht schlagen. Eigentlich gab es dort unten nur ein Ziel für ihn.
Den Renault!
Suko und auch Paul Grenier verfolgten den gleichen Gedanken wie ich. »Der wird doch nicht den Wagen zerstören!« flüsterte mein Freund. »Van Akkeren ist sein Freund – oder?«
»Vielleicht irrst du dich.«
»Sollte mich sogar freuen.«
Ich erwiderte nichts und wartete ab, ob der Adler tatsächlich nach dem Wagen schnappte.
Immer näher schwebte der weit geöffnete Schnabel. Eine Schere, eine gefährliche Drohung, die van Akkeren offenbar nichts ausmachte, wir hörten sogar sein Lachen.
Dann berührte der Schnabel den Wagen. Mit seinen Spitzen tippte er auf das Autodach. Wir sahen es nur als Tippen an, doch der Renault bekam plötzlich eine Beule.
Van Akkeren hatte sich trotz seiner Behinderung so weit wie möglich aus dem Seitenfenster gebeugt. Was er dem Adler zuschrie, verstanden wir nicht. Nur ließ sich der Würgevogel nicht beirren. Er zog den Kopf wieder zurück, um den Schnabel noch weiter zu öffnen. Es war die große, offene Schere, die auch tödlich sein konnte – und die zugriff.
Eliette Grenier schloß die Augen. Sie konnte nicht hinschauen, wir anderen waren gebannt. Der Adlerschnabel packte den Wagen etwa dort, wo sich die Fahrersitze befanden. Blech bedeutete für ihn keinen Widerstand. Er drückte es
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