0532 - Der Blutschwur
am Körper herabhängen. Erst wenn ich dir sage, daß du den Blutschwur empfängst, darfst du dich wieder bewegen. Haben wir uns verstanden?«
»Ja, Meister!«
»Dann schau mich an!«
Sie drückte den Kopf etwas zurück und hob den Blick. Der Meister stand nicht mehr still. Seine Hand verschwand unter der Jacke, und er holte etwas hervor, das erschreckend aussah, denn es besaß die lange und breite Klinge eines übergroßen Messers. Es war eine Mischung zwischen einem Dolch und einer Machete.
Sehr lang und breit. Zwei Hälften bildeten die Klinge, die am Ende zusammenliefen, wo sie die Spitze formten.
Das Mädchen wußte aus Erzählungen, wie wichtig dieses Messer war. Ein jeder der übrigen Mitglieder aus dem Geheimbund hatte die Klinge zu spüren bekommen, und sie, Dunja, würde die letzte in der langen Reihe sein.
Es war ein Ritual, und dementsprechend würdig bewegte sich der Dekan auch.
Er stach nicht zu. Dafür drehte er die Klinge so, daß sie eine waagerechte Haltung einnahm. Die Schneide aus blankem Stahl lag jetzt auf seiner linken Handfläche, mit der Rechten hielt er den leicht geschwungenen Griff umklammert.
Dann führte er die Waffe in Richtung Mund und preßte seine Lippen auf den Stahl.
Er hatte die Augen dabei verdreht, schielte über das Messer hinweg auf Dunja und war zufrieden.
Der Reflex des Kerzenlichts huschte über die blanke Fläche. Nur deshalb, weil er die Waffe um eine Idee gedreht hatte, und das nicht ohne Grund. Er wollte sein Blut an der Klinge haben.
Es war nur ein winziger Schnitt, mit dem er die Unterlippe aufriß.
Blutstropfen quollen hervor, waren plötzlich wie Perlen und rannen über die Unterlippe hinweg, wo sie ihren Weg fanden, um seinem Kinn entgegenzulaufen.
So weit ließ er es nicht kommen. Bevor es soweit war, kantete er die Waffe und fing die Tropfen mit der waagerechten Klinge auf. Er hielt den Opferdolch so in der Waagerechten, daß die Blutstropfen nicht von der Schneide rinnen konnten. Sie blieben darauf liegen, als hätte man sie festgeklebt.
»Mein Blut«, sagte er, »ist anders. Es enthält die Sehnsucht nach dem Tod. Es enthält das Wissen um Dinge, die ihr irgendwann erfahren werdet, wenn ihr euch der großen Freiheit zuwendet. Ich kenne das Jenseits, ich weiß, welch ein beglückendes Gefühl jemand hat, der dort hineingleitet. Ich muß es einfach kennen. Würde das nicht der Fall sein, könnte ich euch meine Lehren nicht näherbringen.«
Sie hatten ihm zugehört, doch keiner von ihnen wagte, ihn anzusprechen. Fragen sollten nicht gestellt werden, sie mußten sich damit abfinden, daß der Meister alles in der Hand hielt und auch recht hatte.
»Mein Blut«, sagte er, »befindet sich auf der Klinge. Ich habe die Hälfte des Rituals erfüllt. Die zweite Hälfte aber wirst du eingeben müssen, hast du gehört?«
»Ja.« Dunjas Antwort war mehr ein Flüstern. Sie wußte selbst nicht, wie sie sich zu sehen hatte oder vorkommen sollte. Sie hatte das Gefühl, weit weg zu sein, einen Traum zu erleben, aber trotzdem alles sehr nah mitzubekommen.
Es war unwahrscheinlich…
Sie erlebte die Realität wie einen Traum. Der Blick war nicht mehr klar, sie konnte ihn als verhangen bezeichnen, als eine Form von Nebel, aus dem sich etwas hervorschälte.
Es war übergroß, breit und glänzend, und es bewegte sich auf ihr Gesicht zu.
Das Messer!
Der Dekan brachte den Opferdolch dorthin, wo er das Blut des Mädchens entnehmen wollte.
Dunja saß unbeweglich. Sie hielt die Lippen leicht geöffnet, atmete schwer und hielt die Luft an, als es geschah.
Die Klinge und ihr Gesicht bekamen Kontakt. Der Stahl berührte ihre Linke Wange. Dunja wußte nicht, ob sie ihn als kalt oder warm empfinden sollte, er war praktisch beides.
Über die Klinge hinweg wehte das Flüstern des Meisters. »Du hast mit der Klinge und meinem Blut Kontakt. Einen Schritt sind wir bereits gegangen, und wir werden auch den zweiten gehen, das kann ich dir versprechen. Bewege dich nicht, achte auf meinen Atem und konzentriere dich auf die Klinge und auch auf dein Blut, das sehr bald fließen wird. Wenn es sich mit dem meinen vermischt, haben wir den Bund geschlossen. Dann können sich die Tore des Jenseits für dich öffnen, dann wirst du hineintauchen in die Welt der Befreiung…«
Dunja sagte nichts. Vorhin noch hatte sie trotz der weichen Erde den Druck an ihren Knien gespürt. Das war nun vorbei. Die Welt um sie herum war versunken, irgendeine Kraft hatte sie woanders hingeschafft, und sie
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