0539 - Der Alptraum-Schädel
»Bitte, geh auf dein Zimmer und halte dich dort ruhig, auch wenn du nicht schlafen kannst, abgemacht?«
»Si, Großmutter.«
Der Junge schlief nicht in dieser Etage, sondern ein Stockwerk tiefer. Seine Großmutter begleitete ihn und brachte ihn auch zu Bett.
Fernando konnte, wenn er sich hinsetzte, aus dem Fenster schauen.
Er sah in die Weite der Landschaft hinein, und ihm fiel wieder der Himmel auf. »Er hat sich nicht verändert, Großmutter.« Fernando reckte sich noch höher. »Eigentlich hätte er das doch müssen.«
»Ja, zumindest hätte er dunkler werden müssen.«
»Und warum ist er…?«
Rosa legte ihrem Enkel eine Finger auf den Mund. »Jetzt wirst du nicht mehr sprechen, Kleiner.«
»Ja, Großmutter. Aber schlafen kann ich auch nicht.«
»Ich schaue gleich noch einmal nach dir.« Mit diesen Worten verließ Rosa Grenada den Raum.
Auch als sie die Treppe erreichte, fühlte sie sich nicht wohler. Sie hörte die Stimmen der Gäste jetzt deutlicher und auch die ihres Sohnes. »So, noch ein Krug mit Rotem!« rief er. »Der geht auf Kosten des Hauses!«
Beifall schwang ihm entgegen. Der Gitarrenspieler schlug einen harten Akkord an.
All dies hörte Rosa Grenada überdeutlich, und sie spürte auf ihrem Rücken den kalten Schauer. Es war schlimm. Irgend etwas stimmte überhaupt nicht mehr. So perfekt hatte die Luft den Schall der Stimmen eigentlich noch nie weitergetragen.
Als würde sie die Treppe zum erstenmal hinabsteigen, so vorsichtig bewegte sie sich über die Stufen. Sie nahm jeden Tritt überdeutlich wahr, die Luft trug den Schall einfach anders als sonst.
Auf dem Absatz stand ein Fenster weit offen. Sie lehnte sich hinaus. Der kühlere Nachtwind wehte ihr nicht mehr ins Gesicht. Jetzt stand die Luft. Kein Blatt bewegte sich an den Bäumen.
Schwül war es nicht geworden. Es lag also kein Gewitter in der Luft. Das Kribbeln auf Rosas Rücken blieb. Sie vernahm aus dem Garten das Klingen der Gläser, ging weiter – und blieb plötzlich stehen.
Wie gebannt starrte sie auf den Abdruck in der Wand. Es war ein Gesicht. Verschmolzen mit dem hellen Gestein. Die Züge wirkten grau und unheimlich, wobei sie noch glaubte, ein rötlichen Schimmer in den Augen erkennen zu können.
Rosa mußte sich überwinden, um auf die Fratze in der Wand zuzugehen. Sie blieb dicht davor stehen und machte es wie bei der ersten unheimlichen Entdeckung.
Behutsam strich sie über das Gesicht hinweg, ohne es jedoch berühren zu können.
Dafür verspürte sie jetzt etwas anderes. Eine ungewöhnliche Aura, die über die Haut am Handrücken strich und dafür sorgte, daß sich die Härchen aufrichteten.
Das war beim erstenmal in der Küche nicht der Fall gewesen. Sie dachte über dieses neu eingetretene Phänomen nach und kam zu dem Entschluß, daß sich die Fratze in der Wand aufgeladen haben mußte. Mit einer unbekannten Kraft.
Die Frau wunderte sich selbst darüber, zu welchen Gedanken und Schlußfolgerungen sie fähig war. Noch vor Tagen wäre ihr dies nie in den Sinn gekommen.
»Großmutter…«
Die Stimme ihres Enkels klang dünn, zaghaft und auch ängstlich an ihre Ohren. Sie riß sie aus ihren Gedanken, sofort dachte sie an eine Gefahr.
»Was ist los?«
»Du mußt kommen, Großmutter.«
»Ja, sofort, Moment noch.«
Plötzlich hatte es Rosa eilig. Sie wäre fast noch über eine Stufenkante gestolpert, als sie die Treppe hoch zum Zimmer des Jungen eilte. Fernando saß noch immer im Bett. Allerdings wirkte er verkrampft und steinern. Den Kopf hatte er in eine bestimmte Richtung gedreht und schaute aus großen Augen auf die Wand gegenüber.
Dort zeichnete sich im Gestein die Fratze ab.
Ein graudüsteres Totenantlitz mit tiefen Falten in der furchigen Haut. Ein gebogener Mund, eine hohe Stirn, über der die Haare wild wucherten.
Auch Rosa erschrak über dieses Omen. Sie blieb neben dem Bett stehen und faßte nach ihrem Enkel. »Steh auf, Junge. Geh zu mir in das Zimmer. Das hier ist verflucht.«
Fernando kroch aus dem Bett.
Beide fühlten sich von der Fratze in der Wand beobachtet, obwohl diese weder Augen, Mund noch Haut bewegte.
Nur ging von ihr etwas Unheimliches und Düsteres aus und zugleich eine Gefahr, wie sie sie beide noch nie zuvor gespürt hatten.
Fernando klammerte sich an seiner Großmutter fest, die ihren Enkel aus dem Zimmer schob.
Eine Etage höher schlief sie. Ob der Junge dort sicherer war, konnte sie auch nicht sagen, jedenfalls befand er sich in ihrer Obhut und war nicht allein.
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