0539 - Der Alptraum-Schädel
als sie mit langsamen Schritten in das andere Zimmer ging.
Der Wind streifte ihr Gesicht und streichelte auch gegen die Kleidung. Er brachte ebenfalls den hellen Klang einer Jungenstimme mit, und Rosa Grenada schreckte zusammen.
»Ich kann nicht schlafen, Großmutter.«
Neben dem Bett, dicht vor dem offenen Fenster und in Rosas Schlafzimmer, stand der Junge. Fernando sah aus, als wollte er anfangen zu weinen, so sehr hatte er sein Gesicht verzogen.
»Aber warum denn nicht, mein Liebling?«
Aus großen Augen schaute Fernando seine Großmutter an. »Weil ich immer an die Gesichter denken muß.«
»Sie sind doch nicht mehr da, mein Kleiner.«
»Doch, Großmutter. Ich… ich muß immer davon träumen. Sie … sie sind in meinem Träumen da …«
»Na und?«
»Ich habe Angst.«
Sie legte eine Hand auf seine Schulter und spürte, wie der Junge zitterte. »Möchtest du bei mir schlafen?« fragte sie.
»Si, das wäre schön. Aber spürst du es nicht, Großmutter? Hast du keine Angst?«
»Wie sollte ich? Und was soll ich spüren?«
»Es ist alles so komisch geworden. Draußen hat sich die Luft verändert, glaube ich. Und auch das Licht.«
»Tatsächlich.«
»Ja, schau selbst.« Er löste sich aus dem Griff seiner Großmutter und ging zum Fenster.
Rosa verstand ihren Enkel nicht und fragte nach.
»Es ist der Himmel, Großmutter!«
»Wieso?«
»Seine Farbe ist so anders geworden.«
Rosa schüttelte den Kopf. Die Haut am Hals schmerzte dabei noch immer. »Meinst du wirklich?«
»Schau doch selbst – bitte.« Fernando stand am Fenster und sah seine Großmutter flehend an.
Sie wollte ihren Enkel nicht enttäuschen und stellte sich neben ihn. Ihr Blick streifte durch den Garten an der Hinterseite des Hauses, hinweg über die Bäume und tropischen Gewächse bis hin zu den Bergen, die in der unteren Hälfte von grauschwarzen Schatten umhüllt waren. Über ihren Gipfeln und Graten lag eine hellere Glocke aus Licht. Die Reststrahlen der Sonne waren noch nicht verschwunden, obwohl sich der Himmelskörper selbst versteckt hatte.
Das Licht dort oben besaß tatsächlich eine ungewöhnliche Farbmischung. Zunächst war es sehr klar. Gleichzeitig grau, an einigen tiefer gelegenen Stellen auch schwarz, bis hin zu einem violetten Schimmer, der breite Streifen und Schneisen schlug. Auch langgezogene, schwefelgelbe Streifen sah die Frau und mußte ihrem Enkel recht geben. Einen derartigen Himmel hatte sie noch nie zuvor zu Gesicht bekommen.
Es war anders, wenn von der Sierra ein Unwetter nahte. Da zeigte er auch zuvor eine ungewöhnliche Klarheit, aber nicht so wie heute.
In dieser Stunde stand er da, als wäre er auf eine gewaltige Leinwand gemalt worden.
Fernando stieß seine Großmutter an. »Was sagst du dazu?«
Sie schaute auf den Schopf des Jungen. Fernando trug einen hellblauen Schlafanzug. »Das ist wirklich komisch«, sagte sie leise. »So etwas habe ich auch noch nie gesehen.«
»Wie kommt das denn?«
»Keine Ahnung. Ein Gewitter kann es nicht sein. Dann wäre die Luft viel schwüler und drückender, weißt du. So spüren wir ja den Wind, der von den Bergen weht.«
Fernando bewies mit den nächsten Worten, daß er sich schon Gedanken gemacht hatte. »Ob das mit den Gesichtern zu tun hat, Großmutter, die wir gesehen haben.«
»Unsinn.« Überzeugend klang die Antwort nicht. Rosa fühlte sich mehr als verunsichert. Am liebsten hätte sie alle Gäste weggeschickt, aber die saßen auch weiterhin vor dem Lokal und feierten lautstark.
Rosa Grenada bezeichnete sich selbst als eine empfindliche Person.
Sie war auf eine gewisse Art und Weise sehr sensibel. Das spürte sie auch jetzt. Das Kribbeln gehörte dazu, ferner das Wissen um etwas Schreckliches, das kurz vor dem Erscheinen stand.
Schweiß lag auf ihrer Stirn. Die Haut war blasser als sonst. Auch Fernando merkte dies.
»Geht es dir nicht gut, Großmutter?«
»Nicht besonders, da bin ich ehrlich.«
»Du hast auch Angst, nicht?«
»Furcht.« Sie wandte sich ab, um den Raum zu verlassen.
»Wo willst du denn hin?«
»Ich gehe nach unten und schaue dort nach dem…«
Fernando ließ seine Großmutter nicht ausreden. »Kann ich nicht mitgehen? Bitte!«
»Nein, du sollst ins Bett.«
»Aber ich kann nicht schlafen. Es ist alles so komisch. Die… die Luft ist anders.«
»Ich weiß, Junge, ich weiß.« Sie strich über das Haar des Enkels und atmete tief ein. Auch sie wußte nicht, wie sie sich verhalten sollte. Machte sie alles richtig oder falsch?
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