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054 - Gabe und Fluch

054 - Gabe und Fluch

Titel: 054 - Gabe und Fluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Frenz
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überbrückt? Auf diese Weise fließt die Kontrollspannung weiter, obwohl der Melder abgeklemmt ist.«
    Keiko schenkte ihm ein anerkennendes Nicken, denn sie wusste, das Elektronik zu Fudohs bevorzugten Hobbys gehörte. Danach passierte sie den Kontrollpunkt und quetschte sich an einer ausgehebelten Absperrung vorbei.
    Fudoh folgte ihr auf dem Fuße. Die letzten Meter ging es steil in die Höhe, bis das Rohr waagerecht abknickte und im Freien endete. Auch hier ließ sich das Drahtgitter kinderleicht zur Seite drücken. Sie warteten einen Moment, bis sich die Pupillen an das einfallende Tageslicht gewöhnt hatten, dann kletterten sie hinaus.
    Der Ansaugstutzen wirkte von außen wie eine natürliche Felshöhlung. Herabhängende Efeuranken trugen zur Tarnung bei, obwohl diese Vorsichtsmaßnahme eigentlich unnötig war. Die Taratzen, die Jahrhunderte lang jeden Oberflächenbesuch zu einer lebensgefährlichen Angelegenheit gemacht hatten, waren längst ausgerottet und die acht über die Inseln verteilten SubCitys lebten in Frieden miteinander. In ganz Japan gab es keinen Feind, vor dem sich eine Stadt schützen musste, doch das Shögunat bestand weiter auf diesen albernen Vorkehrungen. Dabei fürchteten diese Ewiggestrigen in Wirklichkeit nichts mehr, als dass der Frieden ihre Ämter überflüssig machen könnte. Behauptete zumindest Fudohs Vater.
    Gemeinsam klopften sich die beiden Schulfreunde den Staub von den Kleidern, bevor sie dem ausgetretenen Pfad zum Strand folgten. Nur noch einige überwucherte Fundamente erinnerten an die einstige Großstadt, die hier einmal gestanden hatte. Für Fudoh waren die Betonplatten nicht mehr als kümmerliche Relikte einer vergangenen Epoche.
    Als »Christopher-Floyd« am knapp zweitausend Meilen entfernten Baikalsee einschlug, waren die Auswirkungen für Japan verheerend gewesen. Eine gigantische Flutwelle hatte die Zivilisation förmlich von den Inselgruppen gespült. Kein einziges von Menschenhand geschaffenes Bauwerk hatte den Ansturm der gewaltigen Fluten überstanden. Nicht einmal entwurzelte Bäume blieben zurück, denn an vielen Stellen wurde das Erdreich gleich mehrere Meter tief abgetragen. Nur dort, wo Tier- und Pflanzenwelt durch zerklüftete Berghänge geschützt waren, blieb noch Leben erhalten. Und natürlich in den erdbebensicheren Bunkern, die sich unter den Großstädten erstreckten.
    Nicht wenige Japaner deuteten die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki im Nachhinein als ein Geschenk der Götter, das ihnen das Überleben nach dem Kometeneinschlag ermöglicht hatte. Nur dem Trauma der völligen Vernichtung war es zu verdanken, dass nach dem zweiten Weltkrieg weitläufige Bunkersysteme entstanden. Tokios komplettes U-Bahn-System wurde seinerzeit so konstruiert, dass es Tausenden von Menschen eine langfristige Überlebenschance bot. Dazu gesellten sich im Laufe der Jahrzehnte unzählige öffentliche und private Schutzräume. Schulen, Behörden und Fabriken - überall sorgte man für den Ernstfall vor.
    Bereits im 20. Jahrhundert wurden Bunker und unterirdische Produktionsstätten im Ballungszentrum miteinander vernetzt, um eine langfristige Existenz nach dem Atomschlag zu gewährleisten. Während der Religionskriege zu Beginn des 21. Jahrhunderts forcierten die Behörden diese Maßnahme in allen japanischen Großstädten. Aus Angst vor biologischen und chemischen Terrorakten flossen über dreißig Milliarden Yen in die SubCity-Projekte: autarke, subterrane Wohnungen, Büros und Einkaufsmeilen, die überdies halfen, dem leidigen Platzproblem auf neue Weise zu Leibe zu rücken.
    Das gebirgige Japan hatte schon immer darunter gelitten, das es nur in den Küstenbreichen gut zu besiedeln war. Wo zuvor der Weg in die Höhe gesucht wurde, um der Misere zu entgehen, bohrten sich die Neubauten nun tief in das fruchtbare Lavagestein der Insel. Gemüse aus unterirdischen Plantagen galt plötzlich als das gesündeste der Welt - und wurde zu entsprechenden Preisen verkauft.
    Bei Beendigung der Religionskriege stand die Finanzierung der Neubauten auf so sicheren Füßen, dass ihre ursprüngliche Anzahl noch erweitert wurde. Junggesellen, die sich lieber ein subterranes Appartement kauften, als stundenlange Fahrten in die Vororte in Kauf zu nehmen, wurden zwar jahrelang als Kanalratten verspottet, doch mit der Sichtung von »Christopher-Floyd« änderte sich die öffentliche Meinung schlagartig. Ein Jeder, der SubCity-Aktien besaß, mutierte plötzlich zum umschwärmten

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