054 - Gabe und Fluch
Heiratskandidaten. Wer es sich leisten konnte oder die nötigen Beziehungen besaß, verschanzte sich in der Tiefe. Allen anderen blieb nur die Flucht ins Ausland oder der sichere Tod.
Fudoh pflückte eine rote Orchidee für Keiko, die sie sich stolz ins Haar steckte. Nach den Jahrhunderten der Finsternis begann sich die Vegetation auf dem fruchtbaren Lavaboden zu erholen. Die Sonne tat dabei ihr bestes, um dem grünen Wuchs den einen oder anderen Farbtupfer zu entlocken.
Die Alten langweilten gerne mit Erzählungen über die Zeit, als noch jeder Sonnentag wie ein Fest gefeiert wurde, doch für Keiko und Fudoh war der warme Kitzel auf ihrer Haut längst eine Selbstverständlichkeit.
Die fremdartige Strahlung, die früher lange Aufenthalte an der Oberfläche zu einem gefährlichen Unterfangen werden ließ, hatte sich ebenfalls abgebaut. Der traurige Witz von dem Botengänger, der bei jedem Marsch zwischen Tokio und Sapporo weiter verblödete, gehörte der Vergangenheit an. Inzwischen gab es immer mehr Pioniere, die an die Oberfläche zogen, um das Land unter dem freiem Himmel wieder urbar zu machen.
Fudoh und Keiko gelangten an den Strand, an dem sich bereits einige Frauen versammelt hatten, um nach den überfälligen Booten Ausschau zu halten. Keiko grüßte einige von ihnen, denn die Fischerfamilien waren untereinander gut bekannt.
»Habt ihr beiden schulfrei?«, erkundigte sich Frau Uda, eine zierliche Mittvierzigerin, die in der Sushiküche arbeitete.
»Ja«, bestätigte Keiko mit leidender Miene. »In letzter Zeit fällt ständig der Unterricht aus.«
Einige der Umstehenden runzelten die Stirn, behielten aber ihre berechtigten Zweifel für sich. Wer wollte diesen Kindern schon verbieten, nach dem geliebten Vater Ausschau zu halten?
Viel zu sehen gab es allerdings nicht, obwohl die Halbinsel Bösö, die früher den Blick aufs Meer versperrte, im Zuge der Flutwelle versunken war. In zwei Kilometern Entfernung blockierte eine dichte Nebelbank die Sicht. Obwohl der Wind landeinwärts trieb, wirkte sie wie eingefroren.
»Geradezu gespenstisch«, murmelte Keiko, denn der Dunst blieb auf ein mehrere Kilometer umfassendes Feld begrenzt. Links und rechts davon glitzerte die Sonne auf der Wasseroberfläche.
»Sicher ein physikalisch erklärbares Phänomen«, wollte Fudoh sie beruhigen, konnte seine Theorie aber nicht näher ausführen, da ihn einige Frauen zur Stille aufforderten. Sie wollten einem stampfenden Geräusch lauschen, das angeblich von der See herüberwehte.
Nachdem die Gruppe in völligem Schweigen verharrte, hörte Fudoh ebenfalls den Rhythmus.
Was mochte das wohl sein?
Er konnte es nicht ergründen, bis sich Schemen im weißen Dunst abzeichneten. Fudohs Herz beschleunigte seinen Takt, als einige hoch erhobene Drachenköpfe den Nebel zerteilten. Kochendheißer Dampf schoss aus ihren Nüstern, um die wuchtigen Körper mit einem wallenden Schleier zu tarnen. Zuerst glaubte der Junge wirklich, dass leibhaftige Fabelwesen wie der mächtige Gojira nahen würden, aber dann erkannte er, dass die aus Bronze geschmiedeten Fratzen nur als Schornsteine für gepanzerte Schiffe dienten.
Der strenge Geruch, der von ihnen ausging, reizte die Nasenflügel. Fudoh runzelte die Stirn. Das war Schwefel! Natürlich. Auf diese Weise blieben die Dampfwolken haltbar und kaschierten die Anfahrt.
Sofort hatte er ein Bild aus dem Geschichtsunterricht im Sinn. Eine Episode aus dem Jahre 1592, als Admiral Yi Sun Sin eine ähnliche Taktik angewandt hatte, um die japanische Flotte vernichtend zu schlagen. Die koreanischen Schildkrötenschiffe von einst ähnelten auch sonst den gepanzerten Dampfern, die pfeilschnell auf sie zuschossen. Große Schaufelräder rotierten unter dem Druck der funkenspeienden Kessel. Jeder Schlag brachte sie dem Ufer mit beängstigender Geschwindigkeit näher.
Die verwehenden Schleier entblößten ausgefahrene Kanonen an den Breitseiten. Fudoh zählte acht Schiffe, und es schälten sich immer noch mehr aus dem weißen Dunst. Eine komplette Armada hielt auf sie zu!
»Unsere Männer!«, schrie eine der wartenden Frauen verzweifelt. »Was haben sie nur mit ihnen gemacht?«
Die Vermutung, dass diese Flotte mit den verschwundenen Fischerboote zu tun hatte, lag natürlich nahe, und die grellen Blitze in den offenen Geschützpforten ließen keine Zweifel an den feindlichen Absichten.
Dunkles Grollen rollte über die Wasserfläche heran.
Die vorderen Schiffe hatten ihre Buggeschütze abgefeuert. Mit
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