0556 - Milenas Opferstätte
undeutlich ab, als wäre es dabei, allmählich zu verschwinden. Von meinem Freund Bill Conolly war nichts zu sehen.
Das Klopfen an der Tür ließ mich zusammenschrecken. Ich drückte den Deckel wieder auf die Urne und fragte mit leiser Stimme: »Ja, wer ist da?«
»Ich bin es noch einmal – Lorna.«
»Kommen Sie herein.«
Sie öffnete die Tür vorsichtig. Auch jetzt trug sie ihren Bademantel. Die wärmenden Stoffschuhe an ihren Füßen wirkten irgendwie plump. Ihr Gesicht war schmal, das Haar rahmte es glatt ein. Ebenso blaß wirkten ihre Augen.
»Wissen Sie etwas über meinen Freund?«
Lorna hob die Schultern. »Nein, eigentlich nicht.«
Ich ging einen Schritt auf sie zu. »Was meinen Sie mit eigentlich? Wissen Sie etwas oder wissen Sie nichts?«
Sie hob die Schultern. »Wissen Sie, Mister, ich möchte Ihnen raten, nicht nach Talley zu fahren.«
»Danke. Gibt es dafür einen Grund?«
»Ja.«
»Und der wäre?«
»Es spricht sich vieles herum. Vielleicht ist das meiste auch nur ein Gerücht. Aber in Talley und seiner Umgebung sollte es nicht geheuer sein, Mister.«
»Das hörte ich ja bereits. Wissen Sie Näheres?«
»Nein, nein«, antwortete sie schnell.
»Aber ich habe Ihrem Freund das gleiche geraten.«
Ich starrte sie an. »Dann müssen Sie ihn gesehen haben.«
»So ist es auch.«
»Und wo?«
Der Klang meiner Stimme hatte sie zusammenzucken lassen. Ich war aggressiv gewesen, auch ich bin nur ein Mensch. Die Vorgänge der letzten halben Stunde hatten an meinen Nerven gezerrt.
»Bitte«, sagte sie leise. »Sie dürfen mir nicht die Schuld geben, aber ich habe Ihren Freund vor dem Haus gesehen. Er hat das Haus verlassen. Vielleicht ist er zum Wasser gegangen…«
»Wann war das?«
»Kurz nach Mitternacht. Ich räumte noch in der Gaststube auf. Da ging er.«
»Was sagte er?«
»Er hat mir berichtet, daß er sich nicht wohl fühlt. Etwas muß geschehen sein. Er war sehr blaß.«
»Und er ist tatsächlich zum Kai gegangen?«
»Soviel ich erkennen konnte, schon.«
»Danke.« Ich drückte mich an ihr vorbei. Lornas Gesicht roch nach frischer Seife.
Lorna blieb oben, während ich die Treppe hinabeilte. In der Gaststube holte sie mich trotzdem ein. Sie hielt den Türschlüssel in der Hand. »Warten Sie, ich schließe Ihnen auf.«
Ich nickte nur. Meine Sorgen um Bill waren gewachsen. Was konnte ihn nur dazu veranlaßt haben, das Haus ohne Nachricht für mich zu verlassen? Es mußte etwas geschehen sein, was mit Milena Mancow zusammenhing.
»Kennen Sie den Weg zum Wasser, Mister?«
»Ich werde ihn schon finden.«
»Gut – viel Glück.«
Ich brauchte nicht allzuweit zu gehen. Die Kaistraße bildete praktisch eine Grenze des kleinen Hafens, in dem mehrere Schiffe lagen.
Sie bewegten sich träge auf den Wellen. Ihre Mastspitzen tanzten im Rhythmus des anlaufenden Wassers.
Einsam und kalt war es. Meine Schritte hallten auf dem buckligen Kopfsteinpflaster. Wenn Bill sich hier draußen aufhielt, dann mußte ich ihn doch sehen können, denn sonst befand sich kein Mensch mehr im Freien.
Der Fischerort schien in der Kälte erstarrt zu sein. Auch mir blies der Wind gegen das Gesicht. Er war sehr scharf und trieb mir die Tränen in die Augen.
Ich entfernte mich immer weiter vom Gasthaus und erreichte eine Region, wo auch die Häuser weniger wurden. Dafür standen langgestreckte Schuppen in verschiedenen Winkeln zueinander. An einigen von ihnen hingen Fischernetze.
Auf einem Poller sah ich die einsame Gestalt gebückt sitzen. Aus der Distanz gesehen wirkte der Mann wie eine Statue des Bildhauers Ernst Barlach. Es war zwar dunkel, dennoch wußte ich, daß es sich bei der einsam dasitzenden Gestalt nur um Bill Conolly handeln konnte.
Er konnte auf das Wasser schauen, die Schuppen befanden sich in seinem Rücken. Kein Geräusch störte ihn. Er mußte meine Schritte hören, trotzdem drehte er sich nicht um.
Ich blieb in seinem Rücken stehen und wartete ab. Er tat noch immer nichts, bis ich ihn ansprach. »Bill, was ist denn in dich gefahren, alter Junge?«
Da drehte er sich, sehr langsam und träge, als würde ihn diese Bewegung ungeheure Überwindung kosten. Auf irgendeine Weise bekam ich plötzlich Furcht vor dieser Begegnung. Ich konnte keinen Grund sagen, ihn jedoch sehen und fühlte mich bestätigt. Bill Conolly sah so bleich im Gesicht aus wie eine Leiche!
***
Ich hatte Mühe, mein Erschrecken nicht zu deutlich zu zeigen. Es hätte ihn möglicherweise irritiert. Nur das Zucken der
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