0556 - Milenas Opferstätte
preßte beide Hände gegen meine heißen Wangen und hatte das Gefühl, unter Fieber zu stehen.
Mit bleiernen Schritten bewegte ich mich auf das Fenster zu, zog es auf und fror unter der mir entgegenströmenden kalten Nachtluft, die wie ein Eishauch gegen mein Gesicht blies. Vom Strand her vernahm ich das Rauschen der Wellen und das harte Schlagen der Brandung gegen den Fels. Gischt leuchtete fahl wie bleiches Mondlicht.
Der Himmel zeigte eine ungewöhnliche Klarheit mit einem Heer von Sternen. Ein wunderschönes Bild, wobei jeder einzelne Stern in der Kälte erstarrt zu sein schien.
Da ich fror, schloß ich das Fenster wieder. Die klare Luft hatte mir trotz allem gutgetan. Ich ging zum Waschbecken und schleuderte mir Wasser ins Gesicht.
Dann drehte ich mich um. Die Urne stand noch dort, wo wir sie abgestellt hatten. Ich sah sie, als ich mit dem Handtuch mein Gesicht abtupfte.
Wo steckt Bill?
Ich konnte mir nicht vorstellen, daß er den Raum verlassen hatte, ohne irgendeinen triftigen Grund. Besorgt war ich schon, dachte jedoch gleichzeitig daran, daß jeder mal zur Toilette gehen mußte. Als Bill nach zwei weiteren Minuten noch immer nicht erschienen war, beschloß ich, ihn zu suchen.
Auf dem Gang war er nicht. Wie ein dunkler Stollen kam er mir vor. Ein einsamer Lichtschalter leuchtete als grüner Stift. Ich kippte ihn herum, es wurde hell.
Vor der Toilettentür blieb ich stehen und klopfte. Keine Reaktion.
Dann öffnete ich die Tür und schaute in ein dunkles, menschenleeres Verlies.
Wo befand sich Bill? Allmählich vergrößerten sich meine Sorgen.
Ich sah noch in der kleinen Dusche nach und fand ihn dort ebenfalls nicht. War er vielleicht in die Gaststube gegangen?
Von der Küche her drang noch der Geruch des Bratfischs in meine Nase. Die Notbeleuchtung war mir eine gute Orientierungshilfe.
In der Gaststube fand ich keinen Menschen, hörte dann Schritte, und in der offenstehenden Tür hinter der Theke erschien eine schmale Frauengestalt. Es war die Tochter des Hauses. Sie trug einen gelben Bademantel und hielt ein langes Fischmesser in der Hand.
»Keine Sorge, ich bin es nur.«
»Ja, das sehe ich. Was wollen Sie hier?«
»Ich suche meinen Freund.«
Sie verzog das Gesicht. »Hier?«
»Ja, er ist verschwunden. Ich wurde wach und fand ihn nicht mehr im Zimmer. Haben Sie ihn gesehen? Ist er Ihnen begegnet?«
»Nein, nicht.« Sie ließ das Messer sinken. »Ich habe noch nicht geschlafen, hörte aber Schritte. Von Ihrem Freund sah ich nichts.«
»Gibt es einen Hinterausgang?«
»Klar.«
»Dann wird er vielleicht dort verschwunden sein.«
»Möglich. Nur wundere ich mich darüber, daß jemand bei dieser Kälte freiwillig das Haus verläßt.« Sie lächelte plötzlich. »Es sei denn, dahinter steckt eine Frau.«
»Wir kennen in dieser Gegend niemanden. Wir haben nur übernachtet. Morgen müssen wir weiter nach Talley.«
»Den Ort kenne ich.«
»Und?« Ich hatte mich über den Klang ihrer Stimme gewundert.
»Ist da etwas Besonderes mit?«
»Ja und nein. Vielleicht spinne ich auch. Für mich ist er einfach zu düster. Da kann man sich nicht wohl fühlen. Ich war zweimal dort und habe da nie Sonne gesehen. Nur Nebel und Düsternis. Die Berge umgeben ihn, für mich ist Talley nichts.«
»Was wohnen dort für Menschen?«
»Waliser.«
Ich lachte. »Klar, sie sind eine besondere Sorte.«
»Die in Talley können Fremden gegenüber noch feindlicher eingestellt sein. Eigentlich wohnt dort alles, wissen Sie? Auch Fremde, Ausländer, meine ich.«
»Tschechen?«
»Richtig, Mister, Sie scheinen Bescheid zu wissen.«
»Ein wenig«, erwiderte ich. »Sie kennen nicht zufällig einen von diesen Ausländern?«
»Nein, überhaupt nicht. Ich weiß fast nichts über Talley und auch nicht über Ihren Freund.« Ihre Stimme hatte hart und abweisend geklungen. Sie wollte nichts mehr sehen und das Gespräch beenden.
Ich schaute das junge Mädchen noch einmal an. »Wie heißen Sie eigentlich?«
»Lorna Leyn.«
»Danke. Ich wünsche Ihnen noch eine gute Nacht, Lorna.«
»Kann sein.« Ich ging wieder zurück auf das Zimmer. Es kam mir ungewöhnlich leer und klar vor. Mein Blick suchte jede Ecke ab, doch zu entdecken war nichts.
Nur die verfluchte Urne stand noch immer auf dem gleichen Platz.
Ich nahm sie an mich und öffnete den Deckel. Wieder strahlte ich mit der Lampe hinein.
Ich sah die Masse, die mir dunkel und erstarrt vorkam. In ihr schwammen die beiden hellen Augen. Das Gesicht zeichnete sich
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