0559 - Kapitän Sensenmann
sie Furcht davor, daß jemand ihre Worte hören konnte.
»Das weiß niemand. Jedenfalls waren die Fischer tot. Man fand sie erstochen in ihrem Boot.«
»Wieso erstochen?«
»Keine Ahnung. Das muß mit Degen oder Lanzen geschehen sein.« Emily schüttelte sich. »Wenn ich daran noch denke, läuft mir ein Schauer über den Rücken.«
»Mir auch. Aber wer tut so etwas?« Harriet schaute die Frau nahezu verzweifelt an.
»Das weiß ich auch nicht. Obwohl es Gerüchte gibt«, schränkte die Lebensmittelhändlerin ein.
»Welcher Art?«
»Man spricht davon, daß es Geister gewesen sein könnten. Ein alter Fluch wurde zu einer grausamen Wahrheit, als er sich erfüllte. So und ähnlich lauteten die Kommentare.«
»Gibt es denn einen?«
»Bitte, Harriet, jetzt tu mir aber nicht leid. Du kennst doch die Geschichte von Käpt’n Sensenmann, der die Küste von Cornwall unsicher gemacht hat. Und denk auch an die verschwundenen Trauen. Es gibt Leute, die davon ausgehen, daß nur der Käpt’n Sensenmann sie geholt haben kann, um damit seine Mannschaft aufzufrischen.«
»Aber der ist tot.«
»Nicht alles, was tot aussieht, ist auch gestorben, liebe Harriet. Dir brauche ich das nicht zu sagen. Du kennst die Legenden auch. Vielleicht hat das Meer sie wieder hochgespült. Wer sonst hätte die Menschen denn ermorden können?«
»Seeräuber…«
»Das waren doch Piraten.«
»Ich meine andere.«
»Unsinn!« protestierte Emily. »Aber ist nicht deine Tochter da?«
»Ja«, sagte Harriet hart und ärgerte sich gleichzeitig, daß ihr das Blut zu Kopfe stieg.
»Die ist doch bei der Polizei. Du kannst sie fragen.«
»Sie ist wieder gefahren.«
»Schade. Aber ich habe etwas anderes gehört. Angeblich sollen zwei Männer aus London kommen, die sich des Falles annehmen. Dann wird hier aufgeräumt.«
»Falls sie es schaffen.«
»Glaubst du daran nicht?«
»Keine Ahnung.«
Emily lachte. »Ich glaube, ich hätte dir nichts sagen sollen, Harriet. Du lebst dort draußen ziemlich allein und machst dich sonst noch verrückt.«
»Mir werden sie schon nichts tun – die Geister.«
»Man kann nie wissen.« Emily fügte ein Lachen hinzu. »Genug gesponnen, Harriet. Was hast du dir alles an Lebensmitteln ausgesucht?«
»Ich bin noch dabei.«
»Okay, ich störe dich nicht mehr.«
Harriet Bowman konnte sich nicht mehr auf ihr Einkaufen konzentrieren. Ziemlich wahllos griff sie in die Regale hinein und packte Lebensmittel in den Karton, die sie eigentlich nicht benötigte. Sogar Whisky war dabei.
Zwei große Kartons waren schließlich bis zum Rand gefüllt. Emily beugte sich über die Verkaufstheke, wo eine Lücke zwischen den Waren groß genug war. »Da hast du aber zugeschlagen, Harriet.«
»Man weiß nie, wann ich wiederkomme. Das Wetter kann sich auch schnell ändern.«
»Stimmt, es soll kälter werden. Dann gibt es auch Schnee. Davon bin ich überzeugt. Ich werde dir die Rechnung später geben, wenn ich die Lebensmittel bringe.«
»Mach das.«
»Wenn du noch wartest, kannst du mitfahren.«
»Nein, danke, Emily. Ich möchte nach Hause.«
»Gut, dann bis später.«
Mit etwas schleppenden Schritten verließ Harriet den Laden und grüßte nicht einmal Emilys Mann. In Gedanken versunken schritt sie den Weg zurück aus dem Dorf.
Der vierfache Mord war ihr unter die Haut gegangen. Sie ahnte nicht nur, sie wußte auch, daß sich Käpt’n Sensenmann dafür verantwortlich zeigte. Er war diejenige Person, die aus den Tiefen des Meeres gestiegen und von der Hölle gezeichnet worden war. Er würde seine Schreckensherrschaft wieder von vorn beginnen.
Dabei hatte Harriet die Polizei gewarnt. »Sie wollen ja nicht hören«, flüsterte sie gegen den Wind. »Sie wollen einfach nicht hören. Sitzen in ihren Büros und verlassen sich auf den Kollegen Computer. Die Wirklichkeit sehen sie nicht, und die ist verdammt schlimm.«
Sie begann zu weinen, denn sie dachte an Gayle, die ebenfalls zu dieser Höllenmannschaft zählen mußte. Sie selbst hatte zwar nicht gesehen, wie ihre Tochter abgeholt wurde, doch sie ging davon aus, daß es keine andere Möglichkeit gab.
Der Nachmittag neigte sich seinem Ende zu. Bald würde die Dämmerung über das Land kommen. Der Himmel nahm allmählich eine etwas dunklere Farbe an.
Harriet Bowman fiel das Gehen schwer. Es lag nicht an ihren Beinen, der seelische Druck war einfach zu stark. Nervliche Überbelastung, hätte man auch sagen können.
Das hohe, wildwachsende Gras bewegte sich wie ein Wellenmeer im
Weitere Kostenlose Bücher