0559 - Kapitän Sensenmann
Fenster auf die Haustür, wo Harriet stand und die Hände gegen die Wangen gepreßt hielt.
Hatte sie etwas bemerkt?
»Du sollst fahren!« Plötzlich bewegte sich Gayle und hielt der Frau ein Messer dicht an die Kehle.
Emily spürte den feinen Schnitt, gleichzeitig den Schmerz und wußte endgültig, daß dies hier kein Spaß mehr war.
Sie startete.
Ihre Arme zitterten ebenso stark wie die Hände. Die Flächen waren schweißfeucht. Es gelang ihr kaum noch, das Lenkrad zu halten.
Immer wieder rutschte es ihr durch die Finger.
Langsam rollte der Wagen an.
Die Reifen wühlten sich durch die weiche Erde vor dem Haus.
Emily wollte das Lenkrad nach rechts drehen, doch dagegen hatte Gayle Bowman etwas.
»Nein, fahre geradeaus!«
»Aber dann bin ich…«
»Los!« Sie drückte die Klinge noch einmal gegen das Kinn, und Emily Cartwright spürte zum zweitenmal den Schmerz. Diesmal allerdings härter und schärfer.
»Ja, ja, ich mache es. Ich mache alles, was du willst. Nur der Weg, der… der führt doch zu den Klippen, nicht?«
»Genau!«
»Ich will nicht…«
»Weiterfahren!«
Und Emily gehorchte. Automatisch hatte sie die Scheinwerfer angestellt. Ihr Licht warf einen bleichen, breiten Teppich vor den fahrenden Wagen. Er tanzte über das Gras, gab ihm einen gespenstischen Schein und holte Felsen und Büsche aus der Finsternis.
Der normale Weg endete am Haus der Familie Bowman. Zu den Klippen hin mußte man quer durch das unebene Gelände fahren.
Emily Cartwright kannte die Gegend. Sie hatte sich auch oft genug an den Klippen aufgehalten, aber nie darüber nachgedacht, wie weit es vom Haus der Bowmans bis hin zum Abgrund war. – Eine Meile etwa.
Sie saß unbeweglich hinter dem Lenkrad. Das Messer hatte Gayle wieder sinken lassen. Die Klinge wies nicht mehr direkt auf Emilys Kehle, sondern deutete in Höhe der Hüfte auf ihren Körper. Allein die Klinge und die Anwesenheit der jüngeren Frau reichten als Drohung völlig aus. Emily dachte nicht an Widerstand. Sie versuchte nur, einen klaren Gedanken zu fassen, was ihr auch nicht gelingen wollte. Hinter ihrer Stirn rotierte es. Unwillkürlich war sie langsamer gefahren. Im Schrittempo tuckerte der Wagen dahin.
Das merkte auch Gayle. Sofort hob sie die Klinge wieder an.
»Schneller! Los, fahr schneller!«
»Ja, aber…«
»Willst du das Messer spüren?«
»Nein!« ächzte Emily Cartwright. Sie merkte plötzlich, wie ihr schlecht wurde. Das Würgen stieg vom Magen her hoch und erreichte sehr schnell die Kehle, die es auch verstopfte. Es gelang ihr kaum, ein Wort, geschweige denn, einen Satz zu formulieren.
Aber die Klippen, die Steilküste, sie ließ sich nicht einfach wegschieben, sondern rückte näher.
Schon konnte sie die See erkennen, die als dunkle, wogende Fläche in der Ferne lag. Ein düsterer Himmel ohne Sterne schien in das Wasser einzutauchen. Manche Wellen blitzten wie lange Fahnen aus Diamanten. Eine nicht überschaubare Weite, aber auch ein ungemein tiefes Grab, aus dem es kein Entrinnen gab.
»Was willst du eigentlich von mir, Gayle? Weshalb bedrohst du mich mit der Waffe? Du bist Polizistin. Du mußt Leben schützen, aber nicht vernichten.«
»Bin ich das tatsächlich?«
»Ja, du…«
»Du hättest mich besser anschauen sollen, Emily. Ich sehe zwar aus wie ein Mensch, aber ich fühle mich nicht mehr so. Ich bin kein richtiger Mensch mehr. Neben dir sitzt eine Tote, die lebt, die keine Zeugen brauchen kann.«
»K… keine Zeugen?«
»So ist es.«
»Dann willst du mich umbringen?«
»Irrtum, Emily, du bringst dich selbst um, indem du mit deinem Wagen über die Klippen fährst.«
»Nein, nie!« Ein spontaner Schrei und eine spontane Antwort drangen aus ihrem Mund.
Prompt bekam sie das Messer zu spüren. Diesmal so dicht an der Unterlippe, daß sie den Rost auf der Klinge riechen konnte. »Soll ich zustechen, Emily?«
»Du würdest es tun«, sagte sie und konnte ihre Stimme kaum selbst verstehen. »Ich fahre schon.«
»Wie nett.«
Der Untergrund bekam ein anderes Aussehen. Die Nähe der Klippen war an einigen Stellen deutlich zu erkennen. Immer dort, wo Gras und Moos keine Pfründe mehr gefunden hatten, schauten die fast weißen Felsen aus dem Boden. Die Anzahl der Steine nahm zu.
Emily hatte oft genug Mühe, sie zu umkurven.
»Schneller!«
»Es geht nicht…«
»Okay, wir sind sowieso gleich da. Du wirst nicht bremsen, Emily, wenn du direkt auf die Klippen zufährst, hast du verstanden? Es kommt keine Bremsung in
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