0559 - Kapitän Sensenmann
langsam den Pullover in die Höhe und zog den stupsnasigen Revolver.
Noch immer rührte sich die Gestalt nicht.
Das Schießen hatte man ihr auf der Polizeischule beigebracht.
Diesmal zielte Gayle supergenau.
Das Loch der Revolvermündung war ebenso dunkel wie die Augenhöhlen des Unheimlichen. Die Waffe schien in ihrer Hand zu brennen, sie mußte etwas unternehmen.
Gayle Bowman schoß!
Das Krachen der Waffe klang in dem kleinen Raum überlaut.
Selbst sie erschreckte sich, obwohl sie damit gerechnet hatte. Die Kugel hämmerte gegen die Knochengestalt, und der rote Papagei auf der Schulter krächzte wütend auf, als das Geschoß dicht unter der rechten Augenhöhle den Knochenschädel traf.
Gayle hoffte, daß der Schädel zerspringen würde. Sie rechnete damit, Splitter zu sehen, doch der Sensenmann blieb auf der Stelle stehen. Die Kugel war von seinem Schädel abgeprallt! Als deformierter Querschläger hatte sie ein Loch in einen der Deckenbalken geschlagen.
Gayle wollte es nicht glauben.
Noch einmal feuerte sie. Diesmal jagte sie die Kugel gegen die bleichen Gebeine des Brustkorbs, ohne allerdings etwas erreichen zu können. Der Sensenmann blieb stehen.
Gayle Bowmans Gesicht verlor an Farbe. Auf einmal war sie bleich wie eine Wand geworden. Die Mundwinkel zitterten. Der rechte Arm sank nach unten, die Waffe kam ihr so nutzlos vor. Ihr wurde in diesen Augenblicken klar, daß sie das Skelett unterschätzt und ihre Mutter mit den Warnungen recht gehabt hatte.
Es war nicht zu töten, nicht auf diese Art und Weise.
Käpt’n Sensenmann trat vor. Er bewegte zuerst das rechte Bein.
Als der Fuß wieder mit den alten Bohlen Kontakt bekam, glaubte Gayle, das Knirschen der Knochen zu hören. Es stimmte nicht, der nächste Laut, der entstand war das dumpfe Geräusch, als die Prothese dumpf auf das Holz schlug.
Der erste Schritt lag hinter ihm, es folgte der zweite und das gleichzeitige Krächzen des roten Papageis. Aus seinem Maul drangen schaurige Laute. Sie kamen Gayle vor, als würde der Vogel sie auslachen.
Beim dritten Schritt, der die Distanz zwischen Mensch und Monstrum schon wesentlich verkürzt hatte, bewegte der Sensenmann den rechten Arm und damit auch den Säbel.
Er besaß einen golden schimmernden Griff. Die Waffe schwang nach vorn. Sie war gepflegt, wirkte wie neu. Gayle spürte den Luftzug, als die Klinge dicht vor ihrem Gesicht in die Höhe schwebte und wieder zurückkippte. Jetzt ahnte sie auch, wie dieser Unheimliche sie töten wollte. Endlich bewegte sie sich.
Mit einem Sprung erreichte sie den Tisch, stand an der Breitseite, wollte weiter zurück und hatte vergessen, daß ihre Mutter dort lag.
Mit der rechten Hacke zuerst stolperte sie über den Körper. Gayle fiel zurück. Ihre Armbewegungen glichen den verzweifelten Bemühungen eines Nichtschwimmers, sich über Wasser zu halten.
Als sie fiel, krächzte der Papagei laut auf. Es kam ihr vor wie ein Signal des Todes.
Dann war er da!
Gayle wunderte sich noch über seine Schnelligkeit. Sie war dabei, sich aufzurichten, doch der plötzliche Druck gegen die Magenwände raubte ihr die Luft.
Kapitän Sensenmann hatte das Ende seiner Prothese gegen den Körper der Frau gedrückt und schob sie wieder zurück. Sie konnte nichts tun, lag auf dem Rücken und wußte, während sie den Mund weit öffnete, daß ihre Gesichtsfarbe eine andere wurde. Luft bekam sie kaum noch. Über ihre Lippen drangen würgende Geräusche, vermischt mit Speichel, der seinen Weg über das Kinn bis zum Hals fand.
Über ihr blieb er stehen. Leicht vorgebeugt, damit sie genau in sein Gesicht schauen konnte.
Kein Gesicht, eine knöcherne Horrorfratze, nichts anderes war dieser Knochenschädel.
Gayle nahm seinen Geruch wahr. Er stank nach altem Wasser, nach Salz und Moder.
Der Papagei ›lachte‹. Es bestand aus krächzenden und glucksenden Lauten, die er der Frau entgegenschleuderte. Noch immer hielt sie den Revolver in der rechten Hand, wollte noch eine Kugel opfern, das merkte auch der Sensenmann. Auch er war bewaffnet und bewies dies auf grausame Art und Weise, denn er drückte die Spitze des Degens gegen Gayles Handrücken.
Sie schrie auf. Aus der Schnittwunde rann das Blut auf den Bohlenboden.
Unwillkürlich hatte sie den Kopf zur Seite gedreht und kam dem Unheimlichen damit genau entgegen.
Den Säbel sah sie nicht, dafür den Schatten der Waffe, die sie mit ihrer Breitseite zwischen Ohr und Stirn erwischte. Der hart geführte Schlag ließ sie aufschreien, es
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