0565 - Gucky, der Meisterdieb
Gelände fiel zur Ebene hin ab. Die Straße, die von der Stadt zur Burg führte, war gut zu erkennen. Wie ein schmales Band zog sie sich durch den grünen Teppich des Urwaldes.
Auch von anderen Seiten kamen nun Pilger hinzu und stießen zu bereits bestehenden Gruppen. Kun Tares ging meist allein, um sich nicht das Geschwätz der anderen anhören zu müssen. Er hatte nun genug mit sich selbst und seinen geheimsten Plänen zu tun. Alles hing natürlich davon ab, daß diese Burgwächter ihn auserwählten und zur Krone führten. Er wußte nicht, was er tun sollte, wenn das nicht geschah, aber es würde sich auch dann schon ein Ausweg finden lassen. Nur wurde dann alles schwieriger, vielleicht undurchführbar.
Die Felsenburg lag auf dem abgeflachten Gipfel eines kegelförmigen Berges, ein gigantisches Bauwerk mit mächtigen Mauern, die an manchen Stellen mehr als hundert Meter senkrecht in die Tiefe fielen. Es würde unmöglich sein, sie ohne technische Hilfsmittel zu ersteigen.
Die Wächter konnten sich recht sicher fühlen.
Eine tiefer gelegene Ringmauer umgab den Burghof, der dreihundert Meter unter der eigentlichen Burg lag. Eigentlich bestand er nur aus einem durch die hohe Mauer abgeschirmten Stück Urwald, das allerdings zum größten Teil gerodet war und nicht so wild wirkte wie der Wald, dem Kun Tares sich nun näherte.
Die Stadt lag weit hinter ihm, als er endlich die Straße erreichte und dem Zug der Pilger folgte. Die Burg ragte wenige Kilometer entfernt in den immer noch wolkenlosen Himmel. In zwei oder drei Stunden würde es dunkel werden.
Er beschleunigte seine Schritte, denn er hatte keine Lust, sich auch noch mit unbekannten Raubtieren herumschlagen zu müssen, zumal er keine Waffe besaß - oder besitzen durfte. Er überholte mehrmals ermattete Wanderer, warf ihnen ein aufmunterndes Scherzwort zu - und ging weiter.
Jetzt mußte jeder für sich selbst sorgen.
Die Auswahl würde morgen beginnen.
Kun Tares kam unangefochten durch das Gefahrengebiet und erreichte den Fuß des Berges, als die Sonne noch zwei Handbreit über dem Horizont stand. Der Wald wurde etwas lichter, und von Raubtieren hatte er nichts bemerkt.
Vielleicht gab es überhaupt keine, und sie waren nur erfunden worden, um die letzten Kraftreserven der Wallfahrer zu mobilisieren.
Zwei Wächter der Krone standen rechts und links des großen Tores, das in den Burghof führte. Die Kontrolle war nicht der Rede wert, denn niemand würde es wagen, sich unter die Pilger zu mischen, wenn er nicht von einem Priester für die Wallfahrt bestimmt worden war.
Kun Tares atmete auf, als er in dem bewaldeten Hof war, dessen Gelände zur Burg hin steil anstieg. Die Straße führte in Serpentinen weiter, aber sie war schmaler geworden.
Wenn es hier einen regulären Verkehr gab, dann höchstens solchen mit Geschenklasten für die Burgwächter.
Er folgte der Straße, um noch vor Dunkelwerden so nahe wie möglich an die Burg heranzukommen. Es konnte kein Fehler sein, schon jetzt gewisse Erkundigungen einzuziehen, die ihm morgen nur wertvolle Zeit rauben würden. Er mußte das Gelände kennen, wenn sein Unternehmen von Erfolg gekrönt sein sollte.
Dicht unter der eigentlichen Burgmauer, die an dieser Stelle achtzig Meter hoch sein mochte, traf er einige Pilger, die er von der Reise her kannte. Durch seine lange Pause hatten sie ihn überholt und waren vor ihm hier eingetroffen.
„Kun Tares, du hast es auch geschafft?" fragte ihn jemand spöttisch und deutete auf ein freies Stück Wiese. „Hier ist noch Platz für dich. Setz dich zu uns!"
Kun Tares setzte sich und packte die letzten Nahrungsmittel aus.
„Ich nahm mir Zeit", erklärte er kauend. „Erst morgen beginnt die Auswahl, warum also sollte ich mich beeilen?
Sind alle durchgekommen?"
„Ohne Ausnahme. Wir sollten in dieser Nacht ruhig schlafen und Kräfte sammeln, damit wir morgen den Wächtern der Krone offen in die forschenden Augen blicken können." Er deutete hinab in die Ebene zur Straße. „Viele von ihnen werden in die Dunkelheit geraten und den Raubtieren zum Opfer fallen."
„Es gibt keine Raubtiere", sagte Kun Tares.
„Woher willst du das wissen?" fragte einer der Pilger.
Kun Tares sagte vorsichtig: „Ich hätte es bemerkt: Vielleicht schlafen sie aber auch am Tage und sind nur nachts munter."
„So wird es sein", sagte der Pilger.
Kun Tares beschloß, künftig noch vorsichtiger zu sein.
Allzuviel Positives konnte sich sehr schnell in nur Negatives verwandeln.
Es
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