057 - Das Gespensterschloß
Butzenscheiben.
Marthe versucht einen der Flügel zu öffnen, er widersteht ein wenig, gibt aber dann jäh nach. Der Wind dringt herein und bringt eine Menge Schnee mit.
„Du bist verrückt – mach schnell wieder zu.“
Es gelingt ihr. Der Raum ist dunkel geworden. Der Wind hat mit einem Schlag sämtliche Kerzen ausgeblasen, außer denen des dreiarmigen Leuchters, der auf dem niederen Tischchen vor dem Bett steht.
„Ich werde sie wieder anzünden“, sagt Marthe.
„Nein. Es ist erst elf Uhr. Wenn wir die ganze Nacht über Licht haben wollen, müssen wir sparsam mit den Kerzen umgehen.“
„Ich möchte wissen, was mit Jacques und Simone los ist“, meint Bernard. „Warum kommen sie nicht? Sie pflegen es doch sonst zu tun.“
Im Raum herrscht nicht mehr Stille. Sie hören den Schneesturm draußen, der gegen die Mauern anbrandet.
Im Augenblick, da Derais im Gang in Gelächter ausbricht, ist Jacques damit beschäftigt, die Wandleuchter anzuzünden. Er hält inne.
„Hörst du das, Simone?“
Sie ist nicht erschrocken, sie empfindet nur Unbehagen.
„Dieser Mann ist ein bißchen verrückt, nicht wahr?“
„Man möchte es meinen.“
Warum sind sie weniger beunruhigt als Marthe und Bernard? Möglicherweise rührt es daher, daß sie, als Eheleute, vertrauter miteinander sind und sich deshalb sicherer fühlen.
Der Raum sieht fast genauso aus wie der andere. Großes Baldachinbett, aber kein Eisbärenfell. Der gleiche Frisiertisch, der gleiche Hocker, ein viereckiger Tisch, Sessel mit gerader Lehne. Ebenfalls Bilder, aber ziemlich grausige: ein am Galgen baumelnder Mann an der rechten Wand, eine Höllenvision nach Dante an der linken.
Im Augenblick, da Bernard das Holz im Kamin anzündet, fallen auch ihnen die Spinnweben und der Staub auf, aber sie reagieren anders. Simone sagt: „Ein kleiner Schönheitsfehler, der die Harmonie zerstört.“
Sie ihrerseits fühlen sich geborgen und sind froh, allein zu sein, und das läßt alles andere vergessen. Sie lassen sich auf den Kissen vor der Feuerstätte nieder.
Mit verhaltenem Lachen sagt Simone: „Ich möchte wissen, wie Marthe und Bernard zurechtkommen.“
„Ja, ja.“
„Nach meinem Gefühl mußte es so kommen, weißt du. Ich hätte nur nicht gedacht, daß Marthe selber den ersten Schritt tun würde.“
„Die Angst, Liebling.“
„Glaubst du, sie ängstigt sich?“
„Wir würden uns auch ängstigen, wenn wir nicht beieinander wären.“
„Warum kommen sie dann nicht zu uns herein, wie jeden Abend?“
Jacques zündet sich kopfschüttelnd eine Zigarette an. Frauen haben doch manchmal komische Vorstellungen. Er für sein Teil sah in Marthes Verhalten nichts Anstößiges, bei genauerem Überlegen allerdings …
„Ich glaube, Bernard ist von jeher in Marthe verliebt gewesen.“
„Mit zuviel Zurückhaltung, vermutlich.“
Amüsiert streckt der Ingenieur die Hände nach dem Feuer aus.
„Wollen wir an ihre Tür klopfen?“
„Das wäre indiskret.“
Sie lachen beide. Jacques breitet die Arme aus, und Simone schmiegt sich an ihn.
Im Kerzenlicht wirkt der Raum seltsam belebt. Die Schatten zeichnen sich klarer ab als bei elektrischem Licht. Plötzlich fährt Simone hoch: „Hast du gesehen – unterm Bett?“
„Was?“
Jacques dreht sich um. Es ist etwas wie eine lange, schmale Lade, die, kaum daß sie sie bemerkt haben, größte Bedeutung gewinnt.
Die junge Frau kniet sich hin und ruft verwundert: „Das ist nicht der Platz für eine Lade.“
Jetzt fällt ihnen die anormale Höhe des Bettes auf. Man muß es mit bestimmter Absicht erhöht haben.
„Alles ist absonderlich in diesem Haus, man bekommt direkt das Gefühl, in einem Horrorfilm mitzuspielen.“
Sein Lachen klingt nicht unbedingt überzeugend.
„Was da wohl drin ist?“ meint Simone.
„Das geht uns nichts an.“
„Wir könnten doch mal hineinschauen, wer merkt das denn?“
„Nein.“ Typisch weibliche Neugierde.
Dennoch ist auch er neugierig. Er geht zum Bett und bückt sich. Die Lade hat einen mächtigen Griff, offenbar aus massivem Silber. Jacques faßt ihn und zieht das Ding hervor. Was da zum Vorschein kommt, hat eine charakteristische Form …
„Jacques!“
„Ja, sieht aus wie ein Sarg.“
Die Neugierde besiegt die Furcht. Es muß ein Sarg sein: Ebenholz mit silbernen Intarsien, ein prachtvoller Sarg, aber nicht sehr groß.
„Ein Kindersarg.“
„Oder für ein junges Mädchen.“
Sie zögern einen Augenblick. Das Licht ist zunehmend schwächer
Weitere Kostenlose Bücher