057 - Das Gespensterschloß
Grabesstille.
„Was sollen wir tun?“
Ihnen nachgehen oder warten? Bernard kann keinen Entschluß fassen. Die Finsternis ist zu dicht, man könnte meinen, sie habe die beiden jungen Leute endgültig verschluckt und warte auf neue Beute.
„Jacques!“
Bernards Ruf schallt zurück, vibriert und verhallt. Es kommt keine Antwort.
„Aufs Geratewohl uns auf die Suche nach ihnen zu machen, hat keinen Sinn, wir würden uns womöglich verirren, und allmählich glaube ich, daß eine Gefahr auf uns lauert.“
„Hierbleiben können wir auch nicht.“
„Hör zu, ich werde einen Leuchter mitten in den Flur stellen, an dessen Licht Jacques und Simone sich notfalls orientieren können.“
Sie kehren in ihr Zimmer zurück, und Bernard zündet die Kerzen an.
„Derais mußte wissen, daß der Sarg dort war.“
„Nun, und? Das erklärt nichts, im Gegenteil. Eine Tote in ihrem Sarg – warum hat er ausgerechnet dieses Zimmer Jacques und Simone gegeben? Vorsätzlich?“
„Man möchte meinen, sie sei noch nicht lange tot, Bernard.“
„Nein, seit heute morgen, vermutlich.“
Das Schloß liegt einsam, die schlechten Straßen sind tief verschneit – ja, schon möglich, daß die Leiche erst im Lauf des Tages abgeholt wird. Aber warum hat dann Derais kein Wort gesagt? Er muß doch gewußt haben, daß eine Leiche im Haus liegt.
Freilich, er behauptet, seinem Bruder Tristan nie zu begegnen. Ist das glaubwürdig? Können zwei Gruppen gemeinsam in diesem Schloß wohnen, ohne sich zu sehen, ohne sich zu erkennen, ohne zu erfahren, daß sich ein Todesfall ereignet hat? Nein, ausgeschlossen.
„Ich merke, daß ich allmählich überschnappe.“
„Um Gottes willen, nimm dich zusammen, das ist nicht der geeignete Augenblick.“
„Es ist doch eine richtige Tote, nicht wahr?“
„Was meinst du damit?“
Ach so, natürlich … So was Dummes! Bernard lacht schallend.
„Der Bursche spinnt, Marthe, und auf makabre Art.“
Jacques hat gelassener gewirkt als seine Frau. Schön. Angenommen Simone ist von panischer Angst erfaßt worden und davongelaufen. Jacques hat genügend Zeit gehabt, sich darüber klarzuwerden, daß es sich um einen üblen Scherz handelte.
„Komm, Marthe, wir wollen uns das mal genauer ansehen.“
Der Leuchter, den Bernard in den Gang gestellt hat, verbreitet nur ein ganz schwaches Licht. Die Kerzen brennen so ruhig, als herrsche nicht die geringste Zugluft, obwohl man den Wind draußen pfeifen hört. Sie gehen zum Zimmer ihrer Freunde hinüber.
„Oh, Bernard!“
Der Sarg ist leer – vor ein paar Minuten lag noch eine Tote darin. Marthe klammert sich an den Arm ihres Gefährten. „Bernard!“
Das geht entschieden zu weit, der Professor hat es satt
„Das ist ein abgekartetes Spiel, man hält uns zum Narren.“
Jetzt ist er fest davon überzeugt, und das Unbehagen, das er empfunden hatte, wird von Verärgerung abgelöst.
Er macht sich von Marthe los und betritt das Zimmer. Kein Mensch ist zu sehen.
„Das war zu erwarten.“
Der Spuk geht weiter. Ein Frankenstein-Film kann nicht aufregender sein. Derais sollte Regisseur werden, er würde ein neues Kabinett des Doktor Caligari zustande bringen, das noch gepfefferter ist.
„Riechst du was?“
Marthe, die ihm nicht von der Seite gewichen ist, schnuppert. Ja, ein merkwürdiger Geruch. Kein ausgesprochener Leichengeruch, weniger streng, kaum spürbar. Ein paar verwelkte Blumen sind vom Sarg auf den Boden gefallen, verfaulte Blumen, möchte man sagen, was den Geruch erklärlich macht. Aber wie seltsam – vor ein paar Minuten lagen sie noch völlig frisch auf der Brust der Toten. Und diese vollkommene Stille, eine übertriebene Friedhofsstille.
„Bernard, ich habe Angst.“
„Sei nicht albern. Es ist doch nur ein böser Scherz. Dieser Derais wird morgen früh was von mir zu hören bekommen!“
Der Zorn hat ihn vollends gepackt. Liebevoll beruhigend klopft er Marthe auf die Schulter.
„Hoffentlich finden Jacques und Simone zurück. Gehen wir wieder ins Zimmer.“
„Ist dir aufgefallen, daß dieses Zimmer hier kein Fenster hat?“
„Kein Fenster?“
Er schaut sich um.
„Das stimmt.“
Ein leiser Schauder packt ihn. Sein Denkvermögen bleibt klar, aber etwas in ihm setzt aus. Die Nerven versagen, denn er fühlt sich eingeschlossen, gefangen. Er kennt den Weg nicht, der ihn, sei es zu Derais, sei es in die Küche, ja selbst nach draußen führen könnte.
Er nimmt Marthe wieder beim Arm und geht mit ihr zum Flur. An der Türschwelle
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