057 - Die Tochter des Werwolfs
Bernd seine angestauten Werwolftriebe austoben würde. In meiner Verzweiflung habe ich am zweiten Tag des Vollmonds den Brief aus der Dokumentenschachtel genommen und an den Secret Service in London geschickt, zu Ihren Händen.«
Jetzt wusste Sullivan, weshalb der Brief nach so langer Zeit abgeschickt worden war.
»Als die Zeit des Vollmonds vorbei war, kam Bernd zurück. Er war verändert. Er sagte mir, was er getan hatte. Ein Killer, den er angeheuert hatte, hatte Henicke schwer angeschossen. Bernd ließ ihm in der Klinik sein Blut übertragen, das Blut des Werwolfs. Später tötete er den Killer, statt ihm die zweite Hälfte des vereinbarten Betrages zu geben. Als Werwolf zerriss er ihm die Kehle und verscharrte ihn irgendwo im Wald. Er hatte eigentlich vorgehabt, dem Mann das Geld zu geben. Aber er konnte seinen Mordtrieb nicht zügeln.«
»Wie hat er es geschafft, Henicke sein Blut übertragen zu lassen? Er war zu dieser Zeit doch ein Werwolf und musste in die Klinik, sich Ärzten, Schwestern und Pflegern zeigen und sich Blut abzapfen lassen.«
»In den Jahren im Bunker hatte Bernd gelernt, die Metamorphose unter Kontrolle zu halten. Es kostete ihn eine furchtbare Anstrengung. Danach war er tagelang krank. Seine Rache erfüllt sich jetzt.«
»Ja, sie erfüllt sich. Ein Werwolf läuft durch Frankfurt und mordet. Was Ihr Mann begangen hat, ist ein Verbrechen, Frau Sommer. Ich kann seinen Hass auf Henicke verstehen, aber das hätte er nicht tun dürfen. Wenn er den Killer Henicke hätte erschießen lassen, wenn er ihn als Werwolf zerrissen hätte, das könnte ich noch verstehen, aber das nicht. Denken Sie nur an die Unschuldigen, die sterben müssen.«
Die alte Frau senkte den Kopf.
»Ja, ich weiß. Ich hatte gehofft, mit gemeinsamen Anstrengungen könnten wir die Lykanthropie unter Kontrolle halten. Aber ich habe mich geirrt. Auf einen solchen Gedanken konnte nur ein Werwolf kommen, kein Mensch.«
In diesem Moment klingelte das Telefon. Gisela Sommer nahm ab. Dorian Hunter war am Apparat, er fragte nach Trevor Sullivan.
Sullivan erfuhr von ihm, dass der Werwolf von Frankfurt bereits seine ersten Opfer gefunden hatte. Er besprach sich mit Gisela Sommer, gab Hunter einige Informationen und sagte ihm, er würde ihn bald anrufen.
»Führen Sie mich jetzt zu Ihrem Mann in den Keller, Frau Sommer«, sagte Trevor Sullivan. »Ich will ihn sehen.«
Angst und Vorsicht lagen im Blick der Frau. »Sie wollen ihn töten!«
»Nein, er ist sicher angekettet. Wie sollte ich ihn auch töten – mit bloßen Händen? Wir müssen uns darüber unterhalten, was nun werden soll. Aber zuerst muss ich Bernd sehen.«
Gisela Sommer gab nach.
»Also gut. Aber machen Sie sich auf einen Schock gefasst.«
Sie holte den Schlüssel zum Keller und gab ihn Trevor Sullivan. Immer noch hielt sie die mit Silberkugeln geladene Pistole in der Hand. Sie war misstrauisch, verwirrt und am Ende ihrer Kräfte. Wenn Trevor Sullivan etwas versuchte, was ihr nicht gefiel, würde sie die Nullacht hochreißen und auf ihn schießen.
Trevor Sullivan schloss die erste Kellertür auf, dann die zweite. Er knipste den Lichtschalter an. Einige trübe elektrische Birnen leuchteten auf.
Sullivan wusste, dass Bernd Sommer ein Werwolf war, eine schwarzblütige, dämonische Kreatur. Aber er dachte immer noch an den netten jungen Mann mit der schäbigen, mit Gasmaskengummi geflickten Brille, den er im Gefangenenlager kennen gelernt hatte.
Er erstarrte, als er einen knurrenden, in Ketten gelegten schwarzen Wolf mit glühenden Augen und langen Reißzähnen vor sich sah. Gisela Sommer schloss die Kellertür und deutete auf das Untier, das ihr Mann war.
»Das ist er, das ist Bernd.«
Knurren und Grollen kam aus dem Rachen des Werwolfs, seine Nackenhaare sträubten sich. Er sprang auf Trevor Sullivan los, aber die Ketten hielten ihn. Er knurrte, fauchte und winselte, während er sich mit aller Kraft zu befreien versuchte.
Dann verwandelte er sich in eine aufrecht stehende, behaarte Bestie, muskelstrotzend, mit einem Wolfsfang und bleckenden Zähnen, mit Klauenhänden und glühenden Augen.
Die Ketten klirrten, als sich der Werwolf brüllend vorwärts warf und an ihnen zerrte. Die Befestigung der Ketten ächzte, Sullivan glaubte schon, der Werwolf könne sie sprengen. Er war auf einen schrecklichen Anblick gefasst, aber was er da sah, schockte ihn doch.
Dann dachte er daran, dass der Werwolf hier schon oft angekettet worden war und stets getobt hatte. Die
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