057 - Im Banne des Unheimlichen
sein könnte?«
»Ich weiß es wirklich nicht.«
Toby Marsh erhob sich.
»Es ist merkwürdig, daß ... Aber Sie müssen mich jetzt entschuldigen, meine Herren. Ich habe eine Verabredung. Kennen Sie Jenny Hamshaw? Nicht? Da haben Sie etwas versäumt!«
17
Es gab zwei Dinge, über die zu sprechen Mrs. Karoline Hamshaw nie müde wurde: erstens die unvergleichlichen Tugenden ihrer einzigen Tochter - und zweitens das Thema Mord.
Wenn sie nicht gerade die künstlerischen und gesellschaftlichen Triumphe ihrer Tochter pries, dann gab sie bestimmt irgendein Verbrechen zum besten. Sie war einmal als junges Mädchen in einem Mordprozeß als Zeugin aufgetreten, und von daher kam es wohl, daß das lebhafteste Interesse für Morde ihr ganzes Leben lang nicht mehr abriß.
Sie hatte einen Untermieter, Toby Marsh, der pünktlich zahlte und nie nörgelte, wenn sie ihm kleine Extraspesen verrechnete.
An dem Tag, an dem Bill Holbrook in die Gesellschaft der Stolzen Söhne von Ragusa aufgenommen wurde, saß Mrs. Hamshaw, eine dicke, mürrische Matrone, die fetten Hände im Schoß gefaltet, in demütiger Haltung vor ihrer Tochter und hörte sich eine Strafpredigt an, während dicke Tränen über ihre Wangen rollten.
»Ich glaube wirklich, daß ich genug für dich tue, Mutter. Ich habe dir dieses Haus geschenkt - oder lasse dich jedenfalls kostenlos darin wohnen. Ich habe Hunderte für die Einrichtung bezahlt und gebe dir obendrein eine Zulage von mehr als zwei Pfund wöchentlich.«
Mrs. Hamshaw wagte etwas von den hohen Lebenskosten zu murmeln, wurde aber sofort zur Ruhe verwiesen.
»Ich selbst bin schon seit sechs Monaten ohne Engagement - wo soll ich das Geld hernehmen? Warum verschaffst du dir nicht einen zweiten Zimmerherrn? Du glaubst wahrscheinlich, ich bin Millionärin, weil du meinen Namen ein paarmal in Riesenlettern auf Plakaten gesehen hast. Das ist ein Irrtum: Die Gagen sind nicht, was sie einmal waren, und eine Künstlerin von meinem Rang muß sich schließlich eine anständige Wohnung und ein Auto halten und etwas für Repräsentation tun. Ich weiß selbst nicht mehr, woher ich das Geld nehmen soll!«
So sprach La Florette, die Tänzerin mit dem schmalen Gesicht, deren Herkunft Betty richtig eingeschätzt hatte, denn sie hieß im gewöhnlichen Leben einfach Jenny Hamshaw.
»Ich kann dir nur sagen, daß ich mein möglichstes tue, um auszukommen«, jammerte die Mutter. »Ich glaube wirklich, es wäre besser, wenn ich schon im Grabe läge.« Da diese Äußerung nicht die gewünschte Wirkung hatte, fuhr die Alte fort: »Mr. Marsh würde keinen andern Zimmerherrn neben sich dulden, und ich könnte auch nicht noch die Bedienung eines zweiten auf mich nehmen. Ich bin nicht mehr so jung. Als ich noch in Bath bei den Carews in Dienst war - du weißt doch, bei der Frau, die von ihrem Mann ermordet wurde ...«
»Bitte, verschone mich mit deinen Gruselgeschichten!« wehrte La Florette ab.
»Das Kind wurde ins Armenhaus gebracht und später von einem Arzt angenommen. Wenn mir nur der Name einfiele - richtig, Dr. Laffin hieß er. Der nannte es Carew, obwohl ... Aber was ist denn los mit dir?«
La Florette starrte ihre Mutter mit weitgeöffnetem Mund an.
»Carew sagtest du? Wie hieß sie denn mit Vornamen?«
»Elisabeth. Es war ein sehr hübsches Mädchen mit rotem Haar. Und das Komische an der Geschichte ist, daß es gar nicht das Kind des Mörders Carew war. Ich weiß alles ganz genau .«
Die Tochter legte ausnahmsweise das lebhafteste Interesse für diese Geschichte an den Tag, was Mrs. Hamshaw anspornte, ohne Atempause weiterzureden.
»Ein Mann in mittleren Jahren, ein gewisser Leiff ... Ich erinnere mich nur an den Vornamen, weil er so seltsam war - also, dieser Leiff hatte geheiratet und seine junge Frau bei den Carews gelassen, als er nach Amerika zurückkehrte. Er war nämlich Amerikaner. Er wurde aber krank und konnte nicht früh genug wieder nach England kommen. Seine Frau erwartete ein Kind, starb jedoch eine Woche nach der Geburt eines Mädchens. Mrs. Carew hatte selbst nie ein Kind gehabt und verliebte sich derart in das kleine Wesen, daß sie, als Mr. Leiff ... Ach ja, richtig - Stone! Das war sein Name! Als sich also Mr. Stone telegrafisch nach dem Ergehen seiner Familie erkundigte, antwortete sie ihm, Mutter und Kind seien gestorben. Sie weinte später oft aus Reue über ihre Lüge und klagte sich an, daß sie das Kind um das Glück gebracht habe, in einer anständigen Familie aufzuwachsen. Mr. Leiff
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