057 - Im Banne des Unheimlichen
eingetragen worden. Damals hat Mrs. Carew an eine Täuschung wohl noch nicht gedacht. Ja ... Wissen Sie, wo meine - meine Nichte wohnt?«
Bill nickte.
»Ich möchte sie noch heute sprechen.«
»Das habe ich mir gedacht und daher das Taxi warten lassen.«
Es war kurz vor Mitternacht, als das Auto vor Bettys Haus hielt. Bill zog die Glocke - er rechnete damit, daß man eine Weile würde warten müssen. Zu seiner Überraschung öffnete sich die Tür sofort.
»Miss Carew?« rief die Hausfrau und spähte in die Dunkelheit hinaus.
Eine böse Vorahnung ließ Holbrooks Herz schneller schlagen. »Ist sie nicht zu Hause?« fragte er.
»Nein, Sir, und ich verstehe das nicht. Ich kam etwa vor einer halben Stunde heim und fand den Tisch in der Halle zerbrochen vor. Da - sehen Sie selbst! Miss Carews Zimmer ist leer. Dabei ist sie schon im Bett gewesen!«
Bill flog die Treppe hinauf und eilte, mehr von seinem Instinkt geleitet, ins Zimmer des Mädchens. Die Bettdecken lagen auf dem Boden. Auch hier war ein kleiner Tisch umgeworfen worden. Andere Anzeichen eines Kampfes waren jedoch nicht festzustellen.
»Vielleicht hat sie jemand abgeholt -«, meinte die Hausfrau.
»Das denke ich mir auch!« stimmte ihr Bill grimmig zu.
19
Trotz Bills Bemühung, Betty Carew aus der Sache herauszuhalten, war sie an diesem Nachmittag doch zweimal von der Polizei verhört worden. Ihre Aussagen konnten zwar keinerlei Aufschlüsse liefern, denn sie hatte Bruder John früher nie gesehen, und von Dr. Laffin und der Botschaft für den fremden Mann erzählte sie nichts.
Gegen Abend kam Clive Lowbridge, um sie mit seinem Wagen zu einem Ausflug aufs Land abzuholen. Außerhalb Londons, das in dichtem Nebel lag, strahlte die Sonne am wolkenlosen Himmel. Während der Fahrt war Clive ungewöhnlich schweigsam, was ihr nicht unangenehm war, obschon sie sich seine Einsilbigkeit nicht recht erklären konnte. Als die Nacht einbrach, kehrten sie in die Stadt zurück und hielten vor dem kleinen Haus in der Park Street, wo sie wohnte.
»Gute Nacht, Clive, und vielen Dank!«
Sie hatte Kopfschmerzen und war froh, das gewohnte Glas Milch auf dem Tisch in der Halle zu finden. Dann schluckte sie das Aspirin, das sie unterwegs gekauft hatte, und legte sich gleich nieder.
Sie wurde von seltsamen Träumen gequält. Einmal hörte sie einen langen Streit mit an, dann sah sie eine Laterne aufblitzen und vernahm die Flüche eines Mannes. Irgend jemand telefonierte - den Namen verstand sie nicht, und danach spürte sie die Berührung einer kalten Hand und einen Nadelstich oberhalb des Handgelenks. Sie strengte sich fürchterlich an, aus ihrem Schlaf zu erwachen, aber der Schrei, den sie ausstoßen wollte, erstarb ihr in der Kehle, und sie verfiel in einen bleiernen, traumlosen Schlaf.
Im Zimmer war es noch stockdunkel, als sie erwachte. Das Bett schien größer geworden zu sein. Als sie die Hand nach der Lampe auf ihrem Nachtkästchen ausstreckte, fand sie weder das eine noch das andere.
Ich träume wohl noch, dachte sie. Eine ganze Weile kämpfte sie mit sich, ob sie weiterschlafen oder sich anstrengen sollte, zu erwachen. Als sie sich dazu durchgerungen hatte, fand sie sich auf einem Stuhl mit hoher Lehne sitzen. Sie war in einer matterleuchteten Kapelle. Ihr gegenüber befand sich ein weißer Altar, auf dem zwei in goldenen Leuchtern steckende Kerzen brannten. Das war die einzige Beleuchtung des hohen Raumes.
Zu beiden Seiten des Altars reihten sich an Theaterlogen erinnernde Sitze aneinander, über die hinaus reich mit Gold bestickte Banner ragten, und auf jedem der Stühle saß eine vermummte Gestalt.
Sie sah an sich selbst hinab - ein weißes Gewand umhüllte sie, ihre Füße waren nackt, und über ihre Knie gebreitet lag eine rote Stola.
Die Vermummten sangen etwas: einen eigenartigen, eintönigen Hymnus. Sie erinnerte sich, ihn schon irgendwo gehört zu haben, und es fiel ihr auch ein, wo. Vor Jahren hatte sie einmal einem Konzert altenglischer Musik beigewohnt und einen eigentümlichen Gesang gehört, der im Programmheft als der zu Ehren von König Heinrichs Sieg über die Franzosen bei Azincourt gedichtete Triumphgesang vorgestellt worden war. Die gleiche Melodie vernahm sie jetzt wieder - nur die Worte blieben ihr unverständlich.
Vor dem Altar stand ein Mann in einem violettpurpurnen Gewand. Als er zu sprechen begann, erkannte sie seine Stimme sofort. Sie war sicher, daß es der Mann war, dem sie die Botschaft übergeben hatte.
»In deine Hände,
Weitere Kostenlose Bücher