058 - Der Duft von Sandelholz
Sie senkte den Blick hinter ihren Brillengläsern wieder einmal schweigend und demütig.
Ganz kurz runzelte Lily die Stirn. So war ihre Mutter. Immer korrekt und geradeheraus.
Gefühllos und grausam.
„Sorge dich nicht, Pam", sagte sie und versuchte, ihrer blassen, bedauernswerten Cousine ein aufmunterndes Lächeln zu schenken. „Es erscheint ein wenig, nun ja, makaber, aber es macht mir nichts aus", schwindelte sie. „Und außerdem haben unsere Mütter recht. So ist nun mal der Lauf der Welt."
„Nun, mich hat die Welt noch nie sehr gekümmert." Nachdem Pamela sich nach dieser kleinen Ermutigung wieder gefasst hatte, stand sie auf und legte das Buch beiseite, in dem sie gerade gelesen hatte.
Sie ging hinüber zu Lily und starrte ihr ins Gesicht, die braunen Augen aufmerksam und durchdringend hinter den runden, rahmenlosen Gläsern. Ihr Atem roch nach Kaffee - sie trank niemals Tee. „Du wirst es also wirklich tun?", fragte sie fasziniert.
„Selbst nach dem, was geschehen ist? Du wirst uns alle retten, indem du einen reichen Mann heiratest?"
Lily hob den Kopf ein wenig. „Einen sehr reichen Mann."
„Nun, dann suche dir am besten einen dummen aus", riet ihr Pamela. „Die sind leichter zu täuschen."
Lady Clarissa lachte kurz auf. „Sie sind, genau genommen, alle ziemlich dumm, Liebes."
Die trockene Bemerkung erinnerte alle Anwesenden daran, dass Lady Clarissa ihrem Mann nie den Plan verziehen hatte, nach Indien zu gehen, um das Vermögen der Familie zu retten. Nicht, weil sie eine so hingebungsvolle Gemahlin gewesen war, sondern weil sein Tod bedeutete, dass sie niemals den Titel erlangen würde, um dessentwillen sie ihn geheiratet hatte. Hätte er weitergelebt, wäre sie Viscountess geworden. Jetzt blieb ihr nur der Titel, der ihr der Höflichkeit halber als Tochter eines Earls zustand.
„Ja, Lily, höre auf deine Cousine", fuhr sie fort. „Reich und dumm. Genau die Sorte Mann, die jedes Mädchen braucht."
„Richtig", stieß Lily hervor und verbarg ihre Missbilligung. Sie war entschlossen, der unsentimentalen Kühle ihrer Mutter nachzueifern, als sie dem unbekannten Schicksal entgegensah, das London für sie bereithielt. Sie wusste sehr genau, dass dies ihre einzige Chance war, sich in den Augen ihrer Familie zu bewähren.
Reich und dumm sollte er sein.
Welcher kluge Mann würde sie schließlich auch nehmen?
2. KAPITEL
London, zwei Monate später
Er war nicht das, was der Ausschuss erwartet hatte. Die neun würdevollen Gentlemen des Bewilligungskomitees für die Erweiterung des Ostens nahmen ihre Plätze
an dem langen Tisch vor der noch aus dem Mittelalter stammenden Kammer ein und bereiteten sich auf die parlamentarische Anhörung vor, die sie durchführen sollten. Jeder von ihnen genoss insgeheim die Aussicht, den Nachmittag mit ihrem Lieblingsspiel zu verbringen. Ach, es bereitete ja immer so viel Vergnügen, sich die Zeit zu vertreiben mit dem Befragen, Beleidigen, Einschüchtern und Bedrängen irgendeines unglückseligen Offiziers, der das Pech hatte, von der Front hierher geschickt zu werden, um ihnen, der zivilen Behörde, Bericht zu erstatten, ihre Fragen zu beantworten, Erklärungen abzugeben, kurzum: nach ihrer Pfeife zu tanzen.
Schließlich waren sie es, die das Budget der Armee in Händen hielten. Außerdem boten solche Gelegenheiten die Möglichkeiten zu ausführlichen Ansprachen, denen kein Politiker widerstehen konnte.
Da sie dies schon viele Male getan hatten, wussten die Gentlemen, welche Sorte von schwachen jungen Burschen die Kommandeure ihnen aus dem Feld zu schicken pflegten: zweifellos einen gehorsamen Gecken, einen jüngeren Sohn des Adels, der lieber am Spieltisch bei White's gesessen hätte. Die Sorte wichtigtuerischer, dandyhafter Adjutanten, die sorgfältig darauf achteten, sich nahe am Zelt des Generals aufzuhalten, sobald die Kugeln flogen.
Aber so einen hatte Colonel Montrose ihnen diesmal nicht von der Front des hässlichen kleinen Krieges in Indien geschickt -
jenen Krieg, den sie am liebsten vergessen würden.
Nein, ganz und gar nicht.
Der Vorsitzende nickte dem bewaffneten Türsteher zu und bedeutete damit ihre Bereitschaft, das Spiel beginnen zu lassen. Der seinerseits öffnete die alte, knarrende Tür, als wollte er einen armen, verängstigten Christen den Löwen vorwerfen.
Aber dann kündeten die lauten, rhythmischen Schritte draußen auf dem alten Fußboden dem Ausschuss an, dass sie sich möglicherweise in ihren Erwartungen getäuscht haben
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