0593 - Das Zeichen
verlieren dabei ihre eigene innere Existenz, sie werden zu Puppen, zu Marionetten und merken nicht, daß sie sich auf einer Rutschbahn in die Hölle befinden. Ist dem nicht so, Sarah? Habe ich recht?«
»Nein!«
»Dann überzeugen Sie mich vom Gegenteil.«
Sie holte tief Luft und schien dabei die Schwaden trinken zu wollen. »Es ist die Neugierde gewesen, Sinclair. Ich habe mir gedacht, daß es da noch etwas geben muß, das zwischen den sichtbaren Welten existiert. Als ich in der Kabbala nachlas und die Schriften sehr sorgfältig studierte, da fiel es mir auf. Die Welten sind vorhanden, sie existieren, man hat sie immer wieder erwähnt. Es ist oft und trotzdem sehr verschieden über das Thema geschrieben worden. Da wird man neugierig, da muß man einfach hinter die Kulisse schauen.«
»Und seine Hemmungen über Bord werfen, nicht wahr?«
Sie amüsierte sich. »Was heißt Hemmungen? Ich kenne keine Hemmungen mehr.«
»Menschliche Werte wie Liebe, Treue und…«
»Alles Kinderkram, es kommt auf das Ziel an.«
»Sie haben dem Rabbi lange genug treu zur Seite gestanden.«
Ihre Stimme klang bei der Antwort zischend. »Ja, ich war so dumm. Ich bin das gewesen, was der Volksmund als eine treue Seele bezeichnet hat. Treu und gleichzeitig dumm, aber diese Dummheit habe ich über Bord geworfen. Ich bin jetzt bereits mächtiger, als es der Rabbi je gewesen ist, Sinclair. Darauf können Sie sich verlassen.«
»Ach ja, der Rabbi. Wollen Sie mir noch immer nicht sagen, wo ich ihn finden kann?«
»Wir werden zu dem Ort hinkommen, an dem er auch gewesen ist, keine Sorge.«
»Hier auf dem Friedhof?«
Sie blieb stehen und wies nach vorn in den Nebel. »Da, sehen Sie sich die Schwaden an, die sich dort verteilen. Dahinter wird es liegen, Sinclair. Genau dahinter.«
»Und was?«
»Es ist die Gruft der Rabbiner. Das größte Grab auf diesem Friedhof. Man hat die Kaiser und Könige früher auch extra bestattet und für sich gelegt. Ebenso hat man es hier mit den Rabbinern gemacht. In der Gruft stehen drei Särge.«
»Und was finde ich dort noch?«
Sarah warf den Kopf zurück und lachte leise gegen den Nebel.
»Das werden Sie noch sehen.« Nach diesen Worten ging sie weiter, sogar schneller, denn sie schien Mut bekommen zu haben.
Mein Mißtrauen stieg. Der Nebel deckte den Friedhof fast zu. Er war ein guter Hüter und Beschützer dieses Geländes, und er würde auch meinen Feinden die nötige Deckung geben.
Noch sah ich sie nicht. Ich war nicht angegriffen worden. Wenn sich das Böse konzentrierte, dann sicherlich nur in dieser von Sarah erwähnten Gruft.
Ich dachte an meine alte Freundin, die Horror-Oma, die ebenfalls mit Vornamen Sarah hieß. Meine Güte, war das ein Unterschied zwischen den beiden Frauen.
Vom Alter her kaum, von der Einstellung jedoch waren sie verschieden wie Feuer und Wasser. Sarah Goldwyn war eine Person, die das Böse mit allen Mitteln bekämpfte. Diese Sarah war dem Bösen regelrecht verfallen.
Mochte der Nebel auch noch so dicht sein, alles konnte er nicht verbergen. Dazu gehörten auch die Umrisse des großen Grabmals, zu dem die Frau mich brachte.
Vor dem Eingang bewegten sich die Schwaden wie lange, müde Tücher. Wir brauchten sie nicht erst zur Seite zu schieben, sondern konnten hindurchgehen.
Ich hatte sicherheitshalber meine kleine Leuchte hervorgeholt.
Auch wenn der Strahl den Nebel nicht zerreißen konnte, so schaffte er es doch, ihn aufzuhellen.
Mein Blick tauchte in die Tiefe. Dabei war ich mehr meinem Gefühl nachgegangen – und hielt den Atem an, denn dort unten erkannte ich ein dunkles Rechteck.
Es war nicht auf den Boden gezeichnet worden, sondern der Zugang zum Grab direkt.
Sarah war stehengeblieben und schaute zu, wie der Lichtkegel über die Stufen glitt. Bis zu den Särgen reichte das Licht nicht. Es wurde auf halbem Weg von den Dunstschwaden aufgesaugt.
»Wen finde ich dort unten?«
»Die drei Rabbis in ihren Särgen.«
»Und wen noch?«
Sie kicherte. »Das Jenseits, Sinclair. Sie werden einen Teil des Jenseits kennenlernen.«
»Wie schön. Das wollte ich schon immer mal sehen. Aber nach Ihnen, Madam.«
»Sie trauen mir nicht, wie?«
»So ist es.«
Sie ging vor. Die Treppe war ebenfalls feucht geworden und entsprechend rutschig.
Sehr langsam setzte sie ihre Schritte. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie den Gang in die Tiefe bewußt verzögerte. Sie gehörte zu den Menschen, die ihrem Alter Tribut zollen mußten.
Ich blieb ihr auf den Fersen. Nach
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