0597 - Leichen-Ladies
ihre Bewacher nicht gegeizt. Immer wieder war ihr erklärt worden, daß Mann und Sohn zwar eine Befreiung versuchten, aber es nicht geschafft hatten.
Sie gingen stets den falschen Weg, um irgendwann in die Falle der Blutsauger zu laufen.
Mary Sinclair war geschwächt, aber nicht so stark, daß sie nicht aus eigener Kraft hätte gehen können. Die Mahlzeiten, die man ihr gab, waren relativ gut. Sie sorgten dank ihrer vitaminhaltigen Kost dafür, daß sie nicht zusammenbrach.
Also wollte man etwas von ihr. Schließlich hielt man sie nicht grundlos bei Kräften.
Man hatte etwas mit ihr vor – und natürlich mit ihrer Familie, die ebenfalls in die Falle hineingeraten sollte. Eigentlich ging es nur um sie, um John, ihren Sohn.
Er und Mallmann waren zu Todfeinden geworden. Ein grausames Schicksal hatte das furchtbare Netz gespannt, in dem sich John Sinclair verfangen hatte.
Mallmann war schlau. Er wußte genau, was er an seiner Geisel hatte. Befand sie sich lange in seiner Gewalt, konnte er dem Geisterjäger am langen Faden laufen lassen.
Wieder wartete Mary Sinclair, und wieder verging die Zeit quälend langsam. Sie besaß nichts, nur ihre Erinnerungen an bessere Tage, aber auch die verblaßten allmählich.
So konnte sie nur da sitzen, warten, hoffen, und den Kreislauf der Tage beobachten.
Nur selten bekam sie außerhalb der Mahlzeiten Besuch. Dann schaute der Vampir für wenige Sekunden in ihr Verlies und freute sich über die Gefangenschaft der Frau. Er sprach nie, starrte sie an, nickte und zog sich wieder zurück.
Hin und wieder hatte sie Stimmen gehört, die durch das Fenster in ihr Verlies drangen.
Stimmen von Frauen, nie von Männern. So glaubte sie mittlerweile daran, daß die nähere Umgebung ihres Verstecks nur von Frauen bewohnt wurde. Dazwischen Mallmann als einziges männliches Wesen, falls man bei einem Vampir davon überhaupt sprechen konnte.
Allmählich sank die Sonne. Wie jeden Abend stand Mary Sinclair schräg neben dem Fenster, schaute in die Höhe, um die letzten Sonnenstrahlen zu sehen.
Sie erkannte den Ausschnitt und eine dunkle Wand, die an ihrem Rand eine rote Färbung zeigte. Dahinter senkte sich die Sonne, um der Nacht zu weichen.
Wieder würde es eine lange Nacht geben. Die Schwüle des Tages war einer widerlichen Feuchtigkeit gewichen, die auch das Verlies nicht schonte und sich klebrig über die Gestalt der Gefangenen legte. Sie fühlte sich unrein, beschmutzt und vernahm von draußen her ein leises Klopfen. Die Geräusche entstanden, als Regentropfen aus tiefhängenden Wolken auf die Blätter fielen. Sie waren allerdings nicht so laut, um die an der Tür überdecken zu können, denn Mary hörte genau das Schlurfen der Schritte.
Sie wußte, wer kam.
Plötzlich klopfte ihr Herz schneller. Frischer Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn. Wenn diese Schritte erklangen, konnte es nur einer sein, der zu ihr wollte.
Mallmann!
Wenn er kam, dann stets allein. Er brauchte keinen Begleitschutz, und er war es auch, der sein Gesicht zeigte, im Gegensatz zu den anderen Personen, die Mary Sinclair zum Waschraum führten oder ihr das Essen brachten.
Sie wußte nur, daß es sich bei ihren Bewachern um Frauen handelte. Deren Gesichter aber hatte sie nie gesehen.
Mary wartete ab. Sie hatte sich in die Nähe der Fensterluke gestellt, ihr gegenüber stand auf dem Tisch die kleine Öllampe, nicht hochgedreht, so daß ihr Licht nur einen Teil der Platte erhellte und eine schummrige Insel innerhalb des Dämmers schuf.
Wie immer kratzte der Schlüssel im Schloß. Ein Geräusch, daß sie zu Beginn gestört hatte. Jetzt aber hatte sie sich daran gewöhnt und dachte nicht mehr darüber nach.
Die Tür wurde nach innen gestoßen. Wie immer knarrte sie nahezu erbärmlich in den Angeln, als würden sich das alte Holz und das verrostete Metall dagegen wehren, bewegt zu werden.
Mallmann ließ die Tür so weit aufschwingen, bis sie Kontakt mit der Wand bekam. Er selbst betrat das Verlies nicht und blieb auf der Schwelle lauernd stehen.
Sie starrten sich an.
Viel war für Mary Sinclair nicht zu sehen, weil das Licht einfach zu schwach war. Die hochgewachsene und natürlich dunkel gekleidete Gestalt des Blutsaugers malte sich wie ein erstarrter Schattenriß ab. Über den dunklen Konturen der Schultern schimmerte wie ein bleiches Gestirn das Gesicht.
Mary kannte die fahle Haut mit den eingefallenen Wangen. Die Nase des Blutsaugers sprang noch schärfer hervor als früher. Die Augen waren viel dunkler
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