06 - Denn keiner ist ohne Schuld
ihrer Tochter -, und wenn er es auf eine Weise tat, durch die sie sich bedroht fühlte, wenn er es vielleicht ganz offen tat, um sie irgendwie aus der Reserve zu locken, glaubst du nicht, daß sie dann eingegriffen hätte?«
»Doch«, antwortete Deborah. »Ich denke, schon.«
Sie hängte ihr Kleid über den Bügel. Ihre Stimme klang nachdenklich.
»Aber überzeugt bist du nicht?«
»Das ist es nicht.«
Sie nahm ihren Morgenrock, schlüpfte hinein und kehrte zum Bett zurück. Sie setzte sich auf die Kante und hielt den Blick auf ihre Füße gesenkt. »Weißt.«
Sie runzelte die Stirn. »Ich glaube, wenn Juliet Spence ihn ermordet hat und es dabei um Maggie ging, dann hat sie es wahrscheinlich nicht getan, weil sie selbst sich bedroht fühlte, sondern weil Maggie bedroht war. Sie ist schließlich ihr Kind. Das darf man nicht vergessen. Man darf nicht vergessen, was das bedeutet.«
St. James spürte ein warnendes Kribbeln im Nacken. Er wußte, daß ihre letzte Bemerkung auf trügerischen Boden führen konnte. Schweigend wartete er, daß sie fortfahren würde. Sie tat es, senkte dabei die Hand, um nachdenklich ein Muster auf die Decke zwischen ihnen zu zeichnen.
»Dieses Kind ist neun Monate lang in ihr gewachsen und war aufs innigste mit ihr verbunden. Maggie ist ein Teil von ihr. Sie hat das Kind gestillt. Ich glaube.«
Ihre Finger hielten still; sie bemühte sich, sachlich zu sprechen, doch es mißlang. »Eine Mutter würde alles tun, um ihr Kind zu behüten. Ich meine. Würde sie nicht alles tun, um das Leben, das sie zur Welt gebracht hat, zu schützen? Und glaubst du nicht, wenn du ehrlich bist, daß es genau darum bei diesem Mord geht?«
Irgendwo unten im Gasthaus rief Dora Wragg: »Josephine Eugenia! Wo bist du denn jetzt wieder verschwunden? Wie oft muß ich dir noch sagen.«
Eine Tür flog krachend zu und schnitt ihr das Wort ab.
St. James sagte: »Nicht jede Frau ist wie du, Liebes. Nicht jede Frau sieht ein Kind mit solchen Augen.«
»Aber wenn es ihr einziges Kind ist.«
»Dann muß man immer noch fragen, unter welchen Umständen es geboren wurde. Wie es ihr Leben beeinflußt hat. Wie hart es ihre Geduld vielleicht auf die Probe stellt. Wer weiß denn, was zwischen den beiden war? Du kannst Mrs. Spence und ihre Tochter nicht durch den Filter deiner eigenen Wünsche betrachten. Du kannst nicht in ihre Fußstapfen steigen.«
Deborah lachte bitter. »Oh, das weiß ich nur zu gut.«
Er merkte sofort, wie sie seine Worte umgedreht und verletzend gegen sich selbst gerichtet hatte.
»Nein«, sagte er. »Du kannst nicht wissen, was die Zukunft dir bringen wird.«
»Wenn die Vergangenheit ihr Vorspiel ist?«
Sie schüttelte den Kopf. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, nur einen schmalen Streifen ihrer Wange.
»Manchmal ist die Vergangenheit das Vorspiel für die Zukunft. Manchmal ist sie es aber auch nicht.«
»Na, das ist eine feine Art, jeder Verantwortung aus dem Weg zu gehen, Simon.«
»Ja, richtig, das kann es sein. Es kann aber auch eine Art sein, das Leben anzupacken und vorwärtszukommen, nicht wahr? Du suchst deine Hinweise immer in der Vergangenheit, Deborah. Doch das scheint dir nur Schmerz zu verursachen.«
»Während du überhaupt nicht auf richtungsweisende Anzeichen achtest.«
»Ja, da hast du recht«, gab er zu. »Jedenfalls nicht, was uns betrifft.«
»Aber was andere betrifft? Tommy und Helen? Deine Brüder? Deine Schwester?«
»Nein, bei denen auch nicht. Die werden letztlich immer ihren eigenen Weg gehen, auch wenn ich mir noch so sehr den Kopf darüber zerbreche, was zu ihrer Entscheidung geführt hat.«
»Bei wem dann?«
Er antwortete nicht. Tatsache war, daß ihre Worte ihn an etwas erinnert und nachdenklich gemacht hatten. Aber er fürchtete, sie könnte einen Themenwechsel als weiteren Beweis für seine innere Distanz zu ihr auslegen.
»Sag's mir.«
Er sah den ersten Anflug von Gereiztheit in der Art, wie sie die Finger spreizte und dann in die Decke grub. »Dir geht doch etwas im Kopf herum, und ich mag es nicht, daß du mich einfach ausschließt, wenn wir darüber sprechen, wie.«
Er drückte ihre Hand. »Es hat nichts mit uns zu tun, Deborah.«
»Dann also...«
Sie las in ihm wie in einem offenen Buch. »Mit Juliet Spence.«
»Du hast in bezug auf Menschen und Situationen im allgemeinen einen guten Instinkt. Ich nicht. Ich brauche immer die nackten Tatsachen. Du fühlst dich wohler mit Mutmaßungen.«
»Und?«
»Es war diese Bemerkung darüber, daß die
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