06 - Denn keiner ist ohne Schuld
sondern weil sie nicht mehr an Gott glaubte. Früher waren das tägliche Gebet, der Kirchgang, die von Herzen kommende Zwiesprache mit einer liebenden Gottheit für sie so selbstverständlich gewesen wie das Atmen. Aber sie hatte das blinde Vertrauen verloren, das für den Glauben an das Unbenennbare so notwendig ist, als ihr langsam klargeworden war, daß es in einer Welt, in der die Guten Qualen leiden mußten, während die Bösen ungestraft tun konnten, was sie wollten, keine Gerechtigkeit gab. In ihrer Jugend hatte sie geglaubt, einst käme der Tag der Abrechnung für alle. Ihr war klar gewesen, daß sie vielleicht nicht erfahren würde, auf welche Weise ein Sünder vom ewigen Gericht bestraft werden würde, aber daß er vor Gericht gestellt werden würde, im Leben oder nach dem Tod, dessen war sie sicher gewesen. Jetzt wußte sie es anders. Es gab keinen Gott, der Gebete erhörte, Unrecht wiedergutmachte oder Leiden linderte. Es gab nichts als die schwere Bewältigung des Lebens und das Warten auf jene flüchtigen Glücksmomente, die das Leben lebenswert machten.
Sie warf zwei weiße Handtücher auf den Küchenboden und beobachtete, wie der Essig das Weiß mit wachsenden rosafarbenen Blüten durchtränkte. Punkin sah mit ernster Miene und starrem Blick von seinem Posten auf der Arbeitsplatte aus zu, wie sie die Handtücher ins Spülbecken warf und dann Besen und Schrubber holte. Der Schrubber war überflüssig - die Tücher hatten alle Flüssigkeit aufgesogen, und das Glas ließ sich mit dem Besen entfernen -, aber sie hatte schon vor langem die Erfahrung gemacht, daß körperliche Anstrengung quälende Grübelei erstickte. Das war auch der Grund, weshalb sie jeden Tag in ihrem Treibhaus arbeitete, schon bei Tagesanbruch mit ihrem Korb durch den Eichenwald marschierte, ihren Gemüsegarten mit fanatischer Gewissenhaftigkeit pflegte und ihre Blumen mehr aus innerem Drang denn aus Stolz betreute.
Sie fegte die Scherben auf und warf sie in den Müll. Sie beschloß, auf den Schrubber zu verzichten. Besser, den Fliesenboden auf Händen und Knien zu scheuern und den dumpfen Schmerz zu spüren, der meist in ihren Kniescheiben begann und dann in die Beine ausstrahlte. Noch wirksamer als körperliche Anstrengung war Schmerz. Als sie fertig war, wischte sie sich den Schweiß mit dem Ärmel ihres Pullovers vom Gesicht. Colins Geruch hing noch in ihm: Zigarettentabak und Sex, der schwüle Geruch seines Körpers, wenn sie sich liebten.
Sie zog sich den Rolli über den Kopf und warf ihn auf ihre dunkelblaue Jacke auf dem Stuhl. Einen Moment lang redete sie sich ein, daß sich an ihrem Zusammenleben mit Maggie nichts geändert hätte, wenn sie nicht in einem Augenblick egoistischen Verlangens der Begierde nachgegeben hätte. So lang war das Begehren nach einem Mann in ihr verschüttet gewesen, daß sie es schon tot geglaubt hatte. Als sie es völlig unerwartet und ohne Vorwarnung überfallen hatte, hatte sie ihm nichts entgegenzusetzen gehabt.
Sie machte sich bittere Vorwürfe, daß sie nicht stärker gewesen war, daß sie vergessen hatte, was elterliche Vorhaltungen sie in der Kindheit gelehrt hatten, ganz zu schweigen von den »Großen Romanen«, die sie ihr Leben lang gelesen hatte: daß die Leidenschaft unausweichlich zu Zerstörung führt.
Aber es war nicht Colins Schuld. Wenn er gesündigt hatte, dann nur, indem er liebte und in seiner Liebe blind war. Sie konnte es verstehen. Sie liebte ja selbst. Nicht Colin - niemals mehr würde sie einen Mann als Partner in ihr Leben eindringen lassen -, sondern Maggie, die ihr Leben war, mit einer Art qualvoller Selbstaufgabe, die an Verzweiflung grenzte.
Mein Kind. Mein schönes Kind. Meine Tochter. Was würde ich nicht tun, um dich vor Kummer zu bewahren.
Doch alle elterliche Obhut hatte ihre Grenzen. Sie zeigten sich, sobald das Kind darauf bestand, seinen eigenen Weg einzuschlagen; wenn es die Herdplatte berührte, obwohl es hundertmal das Wort nein gehört hatte; wenn es im Winter bei Hochwasser allzu nahe beim Fluß spielte; wenn es einen Schluck Brandy oder eine Zigarette stibitzte. Maggies unbeirrbare Entschlossenheit, in die sexuelle Welt der Erwachsenen einzudringen, obwohl sie noch ein Kind war. Juliet war auf diese Art pubertärer Rebellion nicht vorbereitet gewesen.
Maggie und Sex. Juliet wollte nicht daran denken. Im Lauf der Jahre war sie in der Kunst der Verdrängung immer routinierter geworden. Dinge, die Kummer oder inneren Aufruhr hervorriefen, verbot sie
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