06 - Denn keiner ist ohne Schuld
Nick im Oktober gekommen war. Doch im Gegensatz zu damals wußte sie jetzt, was diese beiden Worte bedeuteten, und ihr wurde eiskalt bei diesem Wissen. Wie dumm sie vor drei Monaten noch gewesen war. Was hatte sie denn eigentlich geglaubt? Jeden Morgen hatte ihre Mutter ihr eine Tasse Tee mit der sämigen Flüssigkeit gebracht, die sie ihr als einen besonderen Tee, extra für Frauen, angepriesen hatte, und Maggie hatte die Zähne zusammengebissen und das Gebräu brav getrunken, weil sie geglaubt hatte, es seien zusätzliche Vitamine, wie ihre Mutter behauptete; Vitamine, die jedes Mädchen brauchte, wenn es zur Frau wurde. Jetzt jedoch, in Zusammenhang mit den Worten ihrer Mutter an diesem Abend, erinnerte sie sich eines getuschelten Gesprächs, das ihre Mutter hier, in dieser Küche, vor fast zwei Jahren mit Mrs. Rice geführt hatte; damals hatte Mrs. Rice sie um etwas gebeten, um »es abzutöten, ein Ende zu machen, ich bitte Sie, Juliet«, und ihre Mutter hatte gesagt: »Das kann ich nicht tun, Marion. Sicher, es ist ein rein persönlicher Eid, aber es ist nun einmal ein Eid, und ich werde ihn halten. Sie müssen in eine Klinik gehen, wenn Sie es nicht haben wollen.«
Worauf Mrs. Rice zu weinen anfing und sagte: »Aber davon will Ted nichts wissen. Er würde mich umbringen, wenn er auch nur den Verdacht hätte, daß ich etwas dagegen unternommen habe.«
Und sechs Monate später waren ihre Zwillinge zur Welt gekommen.
»Ich habe gesagt, du sollst dich setzen«, sagte Juliet Spence. Sie goß Wasser über getrocknete und fein gemahlene Chinarindenwurzel. Der Dampf trug den scharfen Geruch durch den Raum. Sie goß zwei Teelöffel voll Honig zu dem Getränk, rührte es kräftig um und trug es zum Tisch. »Komm hierher.«
Ohne getrunken zu haben, spürte Maggie schon die schneidenden Krämpfe in ihrem Magen, ein Phantomschmerz, den die Erinnerung geboren hatte. »Nein, ich trinke das nicht.«
»Und wie du es trinkst!«
»Nein. Du willst ja nur das Baby umbringen, aber es ist mein Baby. Meins und Nicks. Das hast du damals, im Oktober, auch schon getan. Du hast gesagt, es wären Vitamine, damit ich kräftige Knochen bekomme und mehr Kraft. Du hast gesagt, daß Frauen mehr Calcium brauchen als kleine Mädchen, und ich sei kein kleines Mädchen mehr und darum müßte ich das Zeug trinken. Aber du hast mich angelogen, stimmt's? Stimmt's, Mom? Du wolltest nur ganz sicher sein, daß ich kein Kind kriege.«
»Du bist ja hysterisch.«
»Du glaubst, daß es passiert ist. Du glaubst, daß ich ein Kind in meinem Bauch hab, stimmt's? Deswegen willst du doch, daß ich das Zeug trinke.«
»Wir machen es ungeschehen, wenn es geschehen sein sollte. Das ist alles.«
»Nein! Es ist mein Kind!«
Maggie wich vor ihrer Mutter zurück, bis sie hart gegen die Kante der Arbeitsplatte stieß.
Juliet stellte den Becher auf den Tisch und stemmte eine Hand in die Hüfte. Mit der anderen Hand rieb sie sich die Stirn. Im Schein der Küchenlampe wirkte ihr Gesicht hager. Die grauen Strähnen in ihrem Haar schienen plötzlich stumpfer und deutlicher hervorzutreten. »Was hattest du denn dann mit dem Öl und dem Essig vor, wenn nicht den Versuch - ein ziemlich unwirksamer Versuch übrigens -, die Entstehung eines Kindes zu verhüten?«
»Das ist...«
Maggie wandte sich unglücklich ab.
»... etwas anderes? Und wieso? Weil da etwas schmerzlos fortgespült wird? Weil da etwas beendet wird, das noch gar nicht angefangen hat? Wie bequem für dich, Maggie. Nur leider ist es nicht so. Komm jetzt her und setz dich.«
Maggie zog Essig- und Ölflasche an sich. Eine sinnlose Geste.
»Selbst wenn Essig und Öl wirksame Verhütungsmittel wären - was sie nicht sind -, so ist eine Spülung, die mehr als fünf Minuten nach dem Geschlechtsverkehr vorgenommen wird, völlig nutzlos.«
»Das ist mir doch egal. Dafür hab ich's überhaupt nicht gebraucht. Ich wollte nur sauber sein. Genau wie du gesagt hast.«
»Na also. Wunderbar. Ganz wie du willst. Also, wirst du jetzt das hier trinken, oder müssen wir die ganze Nacht hier herumstehen und streiten und die Realität verleugnen? Keine von uns beiden wird nämlich diesen Raum verlassen, solange du das hier nicht getrunken hast, Maggie. Darauf kannst du dich verlassen.«
»Aber ich trinke es nicht. Du kannst mich nicht dazu zwingen. Ich bring das Baby auf die Welt. Es gehört mir. Ich will es haben. Ich werde es liebhaben. Ja.«
»Du weißt überhaupt nicht, was es heißt, einen Menschen
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