06 - Denn keiner ist ohne Schuld
sich einfach. Sie sah immer nur vorwärts, konzentrierte ihre Aufmerksamkeit auf den fernen Horizont, zog als schweigsame Fremde von Ort zu Ort. Und bis zum letzten August hatte sich Maggie immer ihrem Lebensrhythmus gefügt.
Juliet ließ die Katze hinaus und sah ihr nach, bis sie in den Schatten des Herrenhauses verschwunden war. Dann ging sie nach oben. Die Tür zu Maggies Zimmer war geschlossen, aber sie klopfte nicht an, wie sie das normalerweise getan hätte, um hineinzugehen und sich ans Bett ihrer Tochter zu setzen, ihr das Haar aus dem Gesicht zu streichen und mit ihren Fingerspitzen über die pfirsichweiche Haut zu streichen. Statt dessen ging sie in ihr eigenes Zimmer auf der anderen Seite des Flurs und zog sich im Dunkeln aus. Normalerweise hätte sie dabei vielleicht an die Berührung und die Wärme von Colins Händen auf ihrem Körper gedacht und hätte sich fünf Minuten gegönnt, um sich seine Umarmung ins Gedächtnis zu rufen, den Anblick seines Gesichts über ihr, scharf umrissen im Halbdunkel seines Zimmers. An diesem Abend jedoch bewegte sie sich wie ein Automat, schlüpfte in ihren wollenen Morgenrock und ging ins Badezimmer, um die Wanne einlaufen zu lassen.
Du riechst doch genauso.
Wie konnte sie mit gutem Gewissen ihrer Tochter etwas verbieten, dem sie selbst sich hingab - mit Wonne und Sehnsucht. Sie konnte es nur verbieten, wenn sie ihn aufgab und weiterzog, wie sie das in der Vergangenheit stets getan hatte, ohne einen Blick zurück. Das war die einzige Lösung. Wenn der Tod des Pfarrers nicht ausgereicht hatte, sie zur Vernunft zu bringen - hatte sie denn auch nur einen Moment lang im Ernst geglaubt, sie könnte als liebende Ehefrau des Dorfpolizisten ein neues Leben beginnen? -, dann würde Maggies Beziehung zu Nick Ware dies tun.
Mrs. Spence, mein Name ist Robin Sage. Ich bin gekommen, weil ich mit Ihnen über Maggie sprechen wollte.
Und sie hatte ihn vergiftet. Diesen teilnahmsvollen Mann, der ihr und ihrer Tochter nur Gutes gewollt hatte. Was für ein Leben konnte sie sich jetzt noch in Winslough erhoffen, da jeder an ihr zweifelte, jedes geflüsterte Wort sie verurteilte und keiner außer dem Coroner selbst die Courage besaß, sie zu fragen, wie ihr dieser tödliche Irrtum hatte unterlaufen können.
Sie badete mit Muße, gestattete sich lediglich die unmittelbaren körperlichen Empfindungen, die das Bad - der Waschlappen auf ihrer Haut; der aufsteigende Dampf; die Wasserrinnsale zwischen ihren Brüsten - auslösten. Die Seife roch nach Rosen, und sie atmete den Duft ein, um alle anderen Gerüche zu vergessen. Sie wünschte, das Bad würde alle Erinnerung fortspülen und sie von aller Leidenschaft befreien.
Ich möchte endlich wissen, was mit Daddy war.
Was kann ich dir sagen, mein Liebstes? Daß es ihm nichts bedeutete, mit seinen Fingern dein daunenweiches Haar zu berühren; daß der Anblick deiner zarten Wimpern, die wie gefiederte Schatten auf deinen Wangen ruhten, wenn du schliefst, in ihm nicht den Wunsch weckte, dich zu nehmen und zu halten; daß er niemals vor Entzücken gelacht hätte, wenn er dich mit schmutzigen Händchen ein tropfendes Eis am Stiel hätte halten sehen; daß es in seinem Leben für dich nur einen Platz gab: still und schlafend hinten im Auto, kein Geschrei, kein Aufhebens und keine Forderungen. Daß du für ihn niemals so real warst wie er für sich selbst. Du warst nicht der Mittelpunkt seiner Welt. Wie kann ich dir das erklären, Maggie? Soll ausgerechnet ich deinen Traum zerstören?
Die Glieder waren ihr schwer, als sie sich abtrocknete. Ihre Arme schienen ihr mit Gewichten beschwert, als sie sich das Haar bürstete. Der Badezimmerspiegel war beschlagen. Sie beobachtete darin ihre Bewegungen, ein gesichtsloses Bild, dessen einziges Erkennungsmerkmal dunkles, rasch ergrauendes Haar war. Den Rest ihres Körpers konnte sie im Spiegel nicht sehen, aber sie kannte ihn gut genug. Er war kräftig und widerstandsfähig, ohne Furcht vor harter Arbeit. Es war der Körper einer Bäuerin, die einer Schar Kinder das Leben schenkte. Ihr aber war nur ein junges Lebewesen anvertraut worden, und sie hatte nur eine Chance, diesen Menschen auf seinen Weg zu bringen.
Hatte sie versagt? fragte sie sich nicht zum erstenmal. Hatte sie die elterliche Wachsamkeit um ihrer eigenen Wünsche willen vernachlässigt?
Sie legte die Haarbürste auf den Rand des Waschbeckens und ging über den Flur zur geschlossenen Zimmertür ihrer Tochter. Sie lauschte. Durch die Ritze unter
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