06 - Denn keiner ist ohne Schuld
sind nicht zu erreichen, Dee.«
»Aber es ist Mr. St. James. Er ruft aus Lancashire an.«
»St. James?«
Lynley sah Barbara an. »Sind er und Deborah nicht in Urlaub gefahren?«
Barbara zuckte die Achseln. »Sind wir das nicht alle?«
7
Am späten Nachmittag erreichte Lynley, auf der Clitheroe Road fahrend, die Steigung, die nach Winslough hinaufführte. Zaghaft drang die Sonne, die gegen Abend zu verblassen begann, durch den winterlichen Nebel. In schmalen Streifen fiel sie auf die alten Steinbauten - Kirche, Schule, Wohnhäuser und Läden, reihenweise Musterbeispiele für Lancashires rustikale Architektur - und verlieh den normalerweise düsterbraunen, von Ruß geschwärzten Mauern einen lichten Ockerton. Die Straße war naß, und Pfützen, mit Eis und Reif überzogen, glitzerten im Licht.
Etwa fünfzig Meter vor der Kirche bremste Lynley den Bentley ab. Er hielt am Straßenrand und stieg aus. Die Luft war bitterkalt, und er konnte den Rauch eines frischen Holzfeuers riechen, das irgendwo in der Nähe brannte. Der würzige Duft mischte sich mit den vorherrschenden Gerüchen von Mist, aufgeworfener Erde und feuchter, langsam verfaulender Vegetation, die vom freien Land jenseits der struppigen Hecke am Straßenrand aufstiegen. Er blickte über die Hecke hinweg. Zu seiner Linken bog sie sich nach Nordosten, der Straße zur Kirche folgend. Etwa einen halben Kilometer weiter begann das eigentliche Dorf. Zu seiner Rechten, drüben auf der anderen Straßenseite, verdichtete sich eine Baumgruppe zu einem alten Eichenwald, über dem weiß ein Hügel aus dem Dunst herausragte. Und direkt vor ihm fiel das freie Feld sachte zu einem gewundenen Bach ab, auf dessen anderem Ufer das Gelände, von einem Gitterwerk niedriger alter Steinmauern durchzogen, wieder anstieg. Höfe lagen dort drüben, und Lynley konnte selbst auf diese Entfernung Schafe blöken hören.
Er lehnte sich an den Wagen und betrachtete die Johanneskirche. Wie die Häuser des Dorfes war die Kirche ein schlichter Bau, mit Schiefer gedeckt, ihr einziger Schmuck der Glockenturm mit der Uhr und den normannischen Ziffern. Vor einem dunstigen eierschalenfarbenen Himmel inmitten eines Kirchhofs mit einer Gruppe Kastanien stehend, sah sie eigentlich nicht aus wie die Kulisse zu einem Drama, dessen Kern ein Mord bildete.
»Irgend etwas Merkwürdiges geht hier vor«, hatte St. James gesagt. »Soweit ich gehört habe, hat es der Constable im Dorf geschafft, mehr als eine oberflächliche Untersuchung durch die zuständige Kriminalpolizei abzubiegen. Und er scheint mit der Frau, die dem Pfarrer - Robin Sage - den Schierling verabreicht hat, ein Verhältnis zu haben.«
»Aber es hat doch bestimmt eine Leichenschau stattgefunden, St. James.«
»Ja, natürlich. Die Frau - sie heißt übrigens Juliet Spence hat zugegeben, daß sie dem Geistlichen die giftige Pflanze zu essen gegeben hat, und behauptete, es sei ein Versehen gewesen.«
»Ja, aber wenn die Sache dann nicht weiterverfolgt wurde und der Coroner auf Tod durch Unglücksfall erkannt hat, müssen wir doch annehmen, daß die Autopsie, oder was sonst an Beweismaterial vorlag, ihre Aussage bestätigt hat.«
»Aber wenn man berücksichtigt, daß sie eine ganze Menge von Pflanzen und Kräutern versteht...«
»Jeder macht mal einen Fehler. Überleg doch mal, wie viele Leute schon gestorben sind, weil ein angeblicher Pilzkenner im Wald die falschen Pilze gepflückt und seinen Lieben aufgetischt hat.«
»Das ist nicht ganz das gleiche.«
»Du hast doch gesagt, sie habe den Schierling mit wilder Pastinake verwechselt.«
»Richtig. Und genau da stinkt die Sache.«
St. James legte ihm die Fakten vor. Es sei zwar zutreffend, sagte er, daß die Pflanze nicht auf Anhieb von verschiedenen anderen ihrer Gattung - den umbelliferae - zu unterscheiden sei, aber die Ähnlichkeiten zwischen Arten und Gattungen beschränkten sich größtenteils auf jene Teile der Pflanzen, die zu essen man sowieso nicht in Versuchung käme: nämlich Blätter, Stengel, Blüten und Früchte.
Warum nicht die Früchte, wollte Lynley wissen. War denn diese ganze Situation nicht daraus entstanden, daß jemand die Frucht gepflückt, gekocht und zum Essen serviert hatte?
Keineswegs, klärte ihn St. James auf. Die Frucht, die genauso giftig sei wie der Rest der Pflanze, bestehe aus trockenen, zweigeteilten Kapseln, die anders als beim Pfirsich oder Apfel nicht fleischig seien, daher nicht zum Essen reizten. Wenn jemand in dem Glauben, es handle
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