06 - Denn keiner ist ohne Schuld
Versprechen geschrumpft war, hatte er kurzentschlossen Jeans, Pullover und Anorak eingepackt und den Koffer zusammen mit Gummi- und Wanderstiefeln im Kofferraum seines Wagens verstaut. Schon seit Wochen hatte er den Wunsch, London eine Weile den Rücken zu kehren. Zwar wäre es ihm lieber gewesen, mit Helen Clyde nach Korfu zu verschwinden, aber nun mußte er sich eben mit Lancashire begnügen.
Er fuhr langsam an den Reihenhäusern vorbei, die den Beginn des eigentlichen Dorfes signalisierten, und fand das Pub an der Kreuzung der drei Straßen, genau wie St. James es ihm beschrieben hatte. St. James selbst fand er zusammen mit Deborah in der Gaststube.
Das Pub selbst war noch nicht geöffnet. Die schmiedeeisernen Wandlämpchen mit den kleinen Quastenschirmchen brannten nicht. An der Bar hatte jemand eine schwarze Tafel hingestellt, auf der in einer Handschrift mit merkwürdig spitzen Buchstaben die Tageskarte zu lesen war, in schräg abfallenden Zeilen, mit fuchsienfarbener Kreide. Lasagnia wurde da angeboten, Minutten-Steak und Charamellpudding. Wenn die Orthographie ein Hinweis auf die Qualität der Küche war, sah das nicht gerade vielversprechend aus. Lynley nahm sich vor, lieber im offiziellen Restaurant zu essen.
St. James und Deborah saßen an einem der beiden Fenster, die zur Straße hinausgingen. Auf dem Tisch zwischen ihnen lag neben dem Teegeschirr ein Bündel Papiere, das St. James jetzt gerade zu Hand nahm, um sie in die Innentasche seines Jacketts zu stopfen.
»Hör mir zu, Deborah«, sagte er, worauf sie antwortete: »Ich will aber nicht. Du brichst unsere Vereinbarung.«
Sie kreuzte die Arme auf der Brust. Lynley kannte diese Geste. Er verlangsamte seinen Schritt.
Drei Scheite brannten im offenen Kamin neben ihrem Tisch. Deborah drehte sich auf ihrem Stuhl herum und blickte in die Flammen.
»Sei doch vernünftig«, sagte St. James.
»Sei du fair«, entgegnete sie.
Eines der Scheite brach, und ein Funkenregen ging auf die Kaminplatte nieder. St. James griff zum Schürhaken, Deborah rückte weg. Sie gewahrte Lynley. »Tommy«, rief sie lächelnd und fast ein wenig erleichtert. Er stellte seinen Koffer an der Treppe ab und ging auf sie zu.
»Du bist aber schnell da«, sagte St. James, als Lynley erst ihn und dann Deborah begrüßte.
»Ich hatte Rückenwind.«
»Und keine Schwierigkeiten, vom Yard wegzukommen?«
»Du vergißt, daß ich Urlaub habe. Ich war nur ins Büro gefahren, um meinen Schreibtisch aufzuräumen.«
»Und wir haben dich aus dem Urlaub geholt?« fragte Deborah. »Simon! Das ist ja grausam.«
Lynley lächelte. »Eine Gnade, Deb.«
»Aber ihr hattet doch sicher Pläne, Helen und du.«
»Ja. Aber sie hat sich's plötzlich anders überlegt, und da stand ich nun und wußte nicht, was mit mir anfangen. Entweder eine Fahrt nach Lancashire oder einsame Wanderungen durch mein Haus in London. Da war mir Lancashire schon lieber. Das ist wenigstens eine Abwechslung.«
»Weiß Helen, daß du hier bist?« fragte Deborah.
»Ich ruf sie heute abend an.«
»Tommy...«
»Ich weiß. Es ist nicht die feine englische Art, sich auf französisch zu empfehlen.«
Er ließ sich auf den Stuhl neben Deborah fallen und nahm einen Keks. Er goß sich etwas Tee in ihre leere Tasse und gib Zucker dazu, während er kaute. Er sah sich um. Die Tür zum Speisesaal war geschlossen. Die Lichter hinter dem Tresen brannten nicht. Die Bürotür war einen Spalt offen, aber von drinnen war nichts zu hören, und eine dritte Tür - schräg hinter dem Tresen - war zwar so weit geöffnet, daß ein durch den Spalt fallender Lichtstrahl die Etiketten auf den Flaschen über dem Tresen beleuchtete, aber aus dem Raum dahinter war ebenfalls kein Geräusch zu hören.
»Es ist wohl gar niemand da?« fragte Lynley.
»Irgendwo werden sie schon sein. Auf dem Tresen steht eine Glocke.«
Er nickte, machte aber keine Anstalten hinüberzugehen.
»Sie wissen schon, daß du vom Yard kommst, Tommy.«
Lynley zog eine Braue hoch. »Wieso?«
»Während des Mittagessens kam ein Anruf für dich. Das hat im Pub sofort die Runde gemacht.«
»Adieu incognito.«
»Es hätte uns wahrscheinlich sowieso nicht gedient.«
»Wer weiß Bescheid?«
»Daß du vom CID bist?«
St. James lehnte sich zurück und ließ seinen Blick schweifen, als versuche er, sich zu erinnern, wer in der Gaststube gewesen war, als der Anruf gekommen war. »Auf jeden Fall der Wirt und seine Frau. Sechs oder sieben Einheimische. Eine Gruppe Wanderer, die
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