06 - Denn keiner ist ohne Schuld
sicherlich längst wieder weg ist.«
»Und bei den Einheimischen bist du dir sicher?«
»Ben Wragg - das ist der Wirt - unterhielt sich gerade mit einigen von ihnen, als seine Frau mit der Neuigkeit aus dem Büro kam. Den übrigen wurde die Information mit dem Mittagessen serviert. Jedenfalls Deborah und mir.«
»Na, hoffentlich haben die Wraggs dafür wenigstens was extra berechnet.«
St. James lachte. »Das haben sie nicht getan, aber sie haben uns alle prompt benachrichtigt. Ein Anruf von Sergeant Dick Hawkins, Polizeidienststelle Clitheroe, für Inspector Thomas Lynley.«
»›Ich hab ihn gefragt, wer dieser Inspector Thomas Lynley denn sein soll‹«, ergänzte Deborah, bemüht, den Dialekt der Einheimischen nachzuahmen, »›und ob Sie's glauben oder nicht‹ - mit einer herrlichen dramatischen Pause, Tommy - ›er ist von New Scotland Yard. Und will hier bei uns wohnen. Er hat das Zimmer vor noch nicht mal drei Stunden persönlich reserviert. Ich hab selbst mit ihm gesprochen. Also, was glauben Sie, was der hier will?‹«
Deborahs Nase krauste sich, als sie lächelte. »Du bist die Sensation der Woche. Du hast aus Winslough St. Mary Mead gemacht.«
Lynley lachte. St. James sagte nachdenklich: »Clitheroe ist nicht die Regionaldienststelle für Winslough, nicht wahr? Und dieser Hawkins hat nichts davon gesagt, daß er zu irgendeinem CID gehört, sonst hätten wir das bestimmt erfahren.«
»Clitheroe ist lediglich die Bezirksdienststelle«, antwortete Lynley. »Hawkins ist der vorgesetzte Beamte des örtlichen Constable. Ich habe heute morgen mit ihm gesprochen.«
»Aber er ist nicht CID?«
»Nein. Und du hattest recht mit deinen Schlußfolgerungen in dieser Hinsicht, St. James. Als ich mit Hawkins sprach, bestätigte er mir, daß das CID von Clitheroe sich darauf beschränkt hat, die Leiche zu fotografieren, den Tatort zu besichtigen, die Spuren zu sichern und eine Autopsie zu veranlassen. Den Rest hat Shepherd selbst erledigt: Ermittlungen und Vernehmungen. Aber nicht allein.«
»Wer hat ihm denn geholfen?«
»Sein Vater.«
»Na, das ist aber wirklich etwas seltsam.«
»Seltsam und regelwidrig, aber nicht gesetzeswidrig. Sergeant Hawkins sagte mir, daß Shepherds Vater zur fraglichen Zeit Chief Inspector des CID bei der Regionaldienststelle in Hutton-Preston war. Offensichtlich hat er Hawkins gegenüber auf seinen höheren Rang gepocht und die Sache selbst in die Hand genommen.«
»Er war Chief Inspector?«
»Die Sache mit Sage war sein letzter Fall. Kurz nach der Leichenschau ist er pensioniert worden.«
»Dann muß also Colin Shepherd seinen Vater mobil gemacht haben, um die Kriminalpolizei Clitheroe aus der Sache herauszuhalten«, bemerkte Deborah.
»Oder sein Vater hat es so gewollt.«
»Aber warum?« meinte St. James verwundert.
»Nun, um das herauszufinden, sind wir, denke ich, hier.«
Sie gingen zu Fuß die Clitheroe Road hinunter zur Kirche.
Colin Shepherd wohnte unmittelbar neben dem Pfarrhaus, gleich gegenüber der Johanneskirche. Hier trennten sich die drei. Deborah ging mit einem »Ich habe sie mir sowieso noch nicht angesehen« zur Kirche hinüber, um die beiden Männer ihr Gespräch mit Shepherd allein führen zu lassen.
Zwei Autos standen in der Einfahrt vor dem rotbraunen Backsteinhaus, ein schlammbespritzter Landrover, der mindestens zehn Jahre alt war, und ein Golf, der relativ neu zu sein schien. Vor dem Nachbarhaus stand kein Auto, aber als sie auf dem Weg zu Colin Shepherds Haustür um den Rover und den Golf herumgingen, trat eine Frau an eines der Fenster des Pfarrhauses und beobachtete sie, ohne einen Versuch zu machen, sich zu verstecken. Mit der einen Hand löste sie den Knoten eines Schals, der ihr krauses karottenrotes Haar im Nacken zusammenhielt, mit der anderen knöpfte sie einen marineblauen Mantel auf. Sie ging selbst dann nicht vom Fenster weg, als klar war, daß Lynley und St. James sie bemerkt hatten.
Colin Shepherds Haus war durch ein schmales, rechteckiges Schild gekennzeichnet, das zur Straße hervorsprang. Es war blauweiß und trug nur das Wort Polizei. Wie in den meisten Dörfern war das Haus des Constable auch seine Dienststelle. Lynley überlegte flüchtig, ob Shepherd Juliet Spence zum Verhör hierhergebracht hatte.
Auf ihr Läuten antwortete Hundegebell, gedämpft zunächst, aus einem entfernten Teil des Hauses kommend, dann rasch lauter werdend, als das Tier zur Haustür rannte und unmittelbar dahinter Position bezog. Ein großer Hund, dem
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