06 - Der Schattenkrieg
reichte Wegeners Erfahrung mit Gewalt auf hoher See nicht. Zumindest mit von Menschen ausgeübter Gewalt. Die See war schon gefährlich und gewalttätig genug. Der Gedanke ließ ihm keine Ruhe und plagte ihn wie ein Ohrwurm. Er versuchte, wieder an die Arbeit zu gehen, konnte sich aber nicht konzentrieren. Wegener runzelte die Stirn und ärgerte sich über seine Unentschlossenheit. Ob der Papierkrieg ihm nun schmeckte oder nicht, er gehörte zu seinem Job. Er steckte seine Pfeife wieder an und hoffte, daß dies seine Konzentration verbessern würde. Aber auch das funktionierte nicht. Der Captain stieß eine Verwünschung aus und holte sich ein Glas Wasser. Die Papierstöße warteten immer noch. Er schaute in den Spiegel und stellte fest, daß er eine Rasur nötig hatte. Am Schreibtisch tat sich nichts. »Red, du wirst alt«, sagte er zu seinem Spiegelbild. »Alt und senil.« Er entschied sich für eine Rasur und erledigte das auf die altmodische Weise mit Seife und Pinsel; seine einzige Konzession an die moderne Zeit stellte der Rasierapparat dar. Er hatte sein Gesicht eingeschäumt und zur Hälfte rasiert, als jemand anklopfte.
»Herein!« Chief Riley stand in der Tür. »Verzeihung, Captain, ich wußte nicht…« »Macht nichts. Was gibt’s, Bob?«
»Sir, die Rohfassung der Enterprotokolle liegt vor, und ich dachte mir, Sie wollten sie sich ansehen. Wir haben alle Aussagen auf Audio - und Videoband. Das Original liegt wie befohlen zusammen mit den anderen Beweismitteln in einer verschlossenen Kassette im Panzerschrank fürs Geheimmaterial. Ich habe Ihnen eine Kopie mitgebracht.«
»Gut, lassen Sie sie hier. Neuigkeiten von unseren Gästen?«
»Nein, Sir. Draußen hat es aufgeklart.«
»Und ich sitze hier mit dem verfluchten Papierkrieg fest.«
»Ein Chief, der schafft von früh bis spät, doch des Skippers Werk ist nie vollbracht«, bemerkte Riley. »Es ziemt sich nicht für einen Chief, seinen kommandierenden Offizier auf den Arm zu nehmen.« Wegener verkniff sich das Lachen nur, weil er den Rasierer noch am Hals hatte.
»Ich bitte den Captain um Vergebung. Und, wenn Sie gestatten, Sir, habe ich jetzt ebenfalls zu tun.« »Der Junge, der heute an der 50 mm stand, gehört zur Decksmannschaft. Halten Sie ihm einmal einen Vortrag über Sicherheit. Heute früh nahm er die Jacht nur mit Verzögerung aus dem Visier. Aber reißen Sie ihm den Kopf nicht ganz ab«, meinte Wegener und schloß seine Rasur ab. »Mit Mr. Peterson rede ich selbst.«
»Geht nicht an, daß Männer an diesen Dingern Mist bauen. Ich nehme mir den Jungen vor, sowie ich meinen Rundgang beendet habe, Sir.«
»Ich werde mich nach dem Mittagessen auf dem Schiff umsehen. In der Nacht gibt es schweres Wetter, wie ich höre.«
»Das hat mir Portagee gesagt. Keine Sorge, ich lasse alles festzurren.«
»Bis später, Bob.«
»Aye.« Riley ging hinaus. Wegener räumte seine Rasiersachen weg und setzte sich wieder an den Schreibtisch. Die Rohfassung des Enter- und Festnahmeprotokolls lag zuoberst auf dem Stapel. Inzwischen wurde die endgültige Fassung getippt, aber er sah sich immer gerne die erste Version an, die meist akkurater war. Wegener überflog sie und trank dabei kalten Kaffee. Die Polaroid-Fotos steckten in einer Klarsichthülle. Attraktiver waren sie nicht geworden. Und die Verwaltungsarbeit auch nicht. Er beschloß, das Videoband in seinen Recorder zu schieben und sich die Aufnahmen vor dem Mittagessen anzusehen.
Die Aufnahmequalität war alles andere als professionell. Es fällt schwer, auf einem schlingernden Schiff die Kamera ruhig zu halten, das verfügbare Licht war zu schwach gewesen, und jedesmal, wenn der Blitz der Polaroid losging, wurde der Bildschirm weiß.
Fest stand, daß an Bord der Empire Builder vier Menschen ums Leben gekommen waren. Übrig von ihnen waren nur Blutspuren; der Rest blieb der Phantasie überlassen. Eine Koje in der Kabine des Sohnes war am Kopfende blutgetränkt Kopfschuß. Drei andere Gruppen von Blutlachen waren über die Hauptkajüte verteilt den größten Raum auf der Jacht. Drei Blutlachen, zwei dicht beisammen, die dritte etwas entfernt. Der Mann hatte eine attraktive Frau und eine dreizehnjährige Tochter gehabt… man hatte ihn gezwungen zuzusehen.
»Diese Schweine«, stieß Wegener hervor. So mußte es gewesen sein. Sie ließen ihn zuschauen, brachten sie dann alle miteinander um… zerhackten die Leichen und warfen sie über Bord.
2
Geschöpfe der Nacht
J. T. Williams, auf diesen Namen war sein Paß
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