06 - Prophet der Apokalypse
Gestell zum Beispiel.« Ts’onot wies auf eine Konstruktion, die in ihrer unmittelbaren Nähe stand. »Obenauf liegt ein Gegenstand, den ich aber nur verschwommen erkennen kann.«
Die Antwort des Freundes verblüffte ihn: »Ich sehe es ganz klar«, sagte Diegodelanda. »Das scheint mir eine Art … Kompass zu sein.«
»Ein Kompass?«, echote Ts’onot. »Was ist das?«
»Ein Gerät zur Orientierung, das man in meiner Heimat entwickelt hat«, erklärte Diegodelanda. »Es verfügt über eine Nadel, die stets nach Norden weist.«
So faszinierend der Prophet dies auch fand, es erklärte nicht, warum der Kompass für ihn nur schemenhaft blieb. War in diesem Raum doch nur alles Trug und Schein?
Ts’onot verlangte eine Beschreibung dessen, was Diegodelanda sonst noch erblickte – und wurde abermals verblüfft. Sein Freund sah viel weniger der der dreibeinigen Gestelle als er, dafür aber einige der Gegenstände darauf ganz deutlich, und:
»… der Raum hat die ungefähre Größe des Ratssaals von Ah Kin Pech. Er –«
»Halt!«, unterbrach ihn Ts’onot. »Heißt das, du siehst Wände ?«
Diegodelanda blickte ihn verwirrt an. »Du nicht?«
Ts’onot schüttelte den Kopf. »Der Raum vor uns scheint riesig zu sein, begrenzt nur durch die Wand hinter uns, durch die wir kamen. Die Dreibeine – es sind so viele, dass ich sie nicht zählen kann – verlieren sich irgendwo in der Dunkelheit. Am unheimlichsten aber sind … die Gestalten.«
»Gestalten? Da ist niemand außer uns beiden – jedenfalls sehe ich keinen«, behauptete Diegodelanda.
»Ich kann sie auch nur verschwommen erkennen«, sagte Ts’onot. Schlagartig beschleunigte sich sein Puls, als er bemerkte, dass sich mehrere der Schemen in seiner Umgebung zusammenrotteten und auf ihn zustrebten. Er wollte Diegodelanda darauf aufmerksam machen, doch der stand vor einem der Gestelle und griff wohl nach etwas, das Ts’onot nicht sehen konnte.
»Diego! Deine Hand! Gib mir deine Hand – schnell!«, drängte Ts’onot.
»Was ist?«
»Sie kommen !«
»Wer kommt?« Diegodelanda sah sich um, bemerkte aber offenbar nichts von dem, was Ts’onot in beginnende Panik versetzte.
Im Näherkommen schienen sich die zuvor so unscharfen Schemen zu verdichten und an Substanz zu gewinnen. Ts’onots Nackenhärchen richteten sich auf, als er bemerkte, welch beunruhigende Ähnlichkeit die Geschöpfe mit dem ersten Träger des Armreifs hatten. Dem Wesen, das er auf der Lichtung erschlagen hatte!
Ts’onot stockte der Atem. Für ihn war jetzt klar, dass die Wesen Rache für den Tod ihres Artgenossen nehmen wollten. An ihm! Und bei der Gelegenheit würden sie sich auch den Armreif zurückholen …
Ts’onot griff nach der Hand seines Freundes und fuhr herum. Sie hatten sich nur wenige Schritte von der Wand entfernt, durch die sie gekommen waren.
Falls diese Schemen Götter waren, dann andere als die, die sein Volk kannte.
Fremde Götter … Ihn schwindelte.
Noch bevor er mit Diegodelanda die Wand erreicht hatte, waren die sonderbaren Gestalten bei ihnen. Ts’onot schrie auf, als er meinte, unzählige Finger über seinen Körper streichen zu spüren. Er war überzeugt, dass sie ihn festzuhalten versuchten. Doch irgendwie …
… entkam er den fordernden Händen. Der schon vertraute Sog erfasste ihn, und dann stand er wieder auf der Spitze der Pyramide vor dem Blutstein.
Diegodelanda blickte ihn genauso konsterniert an wie er ihn. »Was ist nur los? Du schaust aus, als hättest du Geister gesehen …«
Ihre Hände lösten sich erst voneinander, als sie ein paar Schritte Abstand zwischen sich und die Seite des Blutsteins gebracht hatten und das Flirren seiner Oberfläche verebbt war.
»Geister trifft es genau«, keuchte Ts’onot. »Fast hätten sie uns gehabt!«
»Diese Schemen, von denen du gesprochen hast?«
Ts’onot nickte, während er um Atem und Fassung rang. Nach einer Weile bemerkte er, dass Diegodelanda etwas in der Hand hielt und von allen Seiten beäugte.
»Was ist das?«, fragte Ts’onot alarmiert. »Hast du das von drüben mitgenommen?«
Ohne jegliches Schuldbewusstsein nickte Diegodelanda und strich über die handlange Hülse, die das Licht der Sonne reflektierte. Sie war aus Metall, aber nicht aus Silber, obwohl der Farbton ähnlich war. »Da lagen zwei von diesen Dingern. Ich habe mir nur eins genommen – und hätte es auch wieder zurückgelegt, aber dann ging alles so schnell.«
Ts’onot hatte ein flaues Gefühl im Magen. »Was immer es
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