06 - Prophet der Apokalypse
ist, es war sicher nicht klug, es mitzunehmen. Am besten vergraben wir es irgendwo im Dschungel. So wie ich es auch mit dem Messer tun werde, das Oxlaj aus dem Raum mitgebracht hat.«
Diegodelandas Augen weiteten sich bei der Erwähnung der Klinge. Zumindest interpretierte Ts’onot es so – bis ihm auffiel, dass der Freund ihm nicht ins Gesicht schaute, sondern den Blick tiefer gerichtet hatte. Gleichzeitig sagte Diegodelanda: »Nicht klug, so, so. Und was hast du mitgebracht?«
»Nichts«, verwahrte sich Ts’onot gegen die Behauptung und sah gleichzeitig an sich hinab, folgte Diegodelandas Blick. Er erschrak, als er die unbekannte Kette entdeckte, die um seinen Hals hing.
Eine nie zuvor gesehene Kette, die durch einen klobigen Ring gefädelt war!
***
Der größte Feind aller Dinge und des Lebens ist die Zeit.
In einem Raum jenseits der Zeit beraten sich seltsam gesichtslose Wesen.
Die bernsteinfarben geschuppten Geschöpfe, deren Köpfe dornenartige Auswüchse aufweisen, streiten darüber, ob sie richtig gehandelt haben.
»Richtig« im Sinne universeller Gesetze.
Aber es ist wie stets: Sie können Dinge in Gang bringen und Prozesse anstoßen, die sich dann in diese oder jene Richtung entwickeln mögen.
Mehr dürfen sie nicht tun.
6.
Gegenwart
»Du musst auch mal ein Auge zutun. Mach endlich das Licht aus!«
Tom war so konzentriert, dass er gar nicht bemerkt hatte, wie Maria Luisa zu ihm gekrochen kam. Sie hatte sich vorhin neben Alejandro gelegt, weil sie ihm das Einschlafen erleichtern wollte – und war dabei selbst weggenickt. Nun, eine Stunde später, war sie offenbar wieder erwacht und hatte gemerkt, dass die Batterieleuchte, die Ana ihnen mit auf den Heuschober gegeben hatte, immer noch brannte, auch wenn ihr Licht merklich schwächer geworden war.
Aber Tom war ohnehin gerade bei den letzten Zeilen der Blätter angelangt, die sie in der Kladde gefunden hatten.
»Das hatte ich vor«, sagte er leise. »Aber ich musste endlich wissen, was Diego de Landa der Nachwelt zu sagen hatte – das verstehst du doch?«
Sie rutschte ganz eng zu ihm auf eine der Decken, die Ana ihnen gegeben hatte, damit sie sie über die Heuballen breiteten und nicht »vom Hafer gestochen« wurden. Was genau sie damit gemeint hatte, ließ sie offen.
»Klar«, entgegnete Maria Luisa. »Und ich will’s auch wissen, also leg los!« Sie schmiegte sich an ihn, ohne dass sie zu erkennen gab, ob es rein freundschaftlich und zutraulich gemeint war, oder ob auch bei ihr das Verlangen im Spiel war, ihm nicht nur platonisch näher zu kommen.
Er schob den Gedanken weit von sich. Allerdings so, dass er immer noch in »Fühlweite« blieb.
Er blickte über Maria Luisa hinweg zu Alejandro, dessen leises Schnarchen das einzige Geräusch in der Stille war – abgesehen von ihrem Wortwechsel.
»Also«, drängte sie, »was schreibt dein komischer Spanier, der bei den Maya gelebt hat?«
»Nicht nur das. Er hat einen sagenhaften Aufstieg zum Kaziken hingelegt!«
»Zum Herrscher über die Maya also?«, vergewisserte sich Maria Luisa.
»Richtig.« Tom Ericson nickte und rief sich ins Gedächtnis, was das Dokument noch preisgegeben hatte. »Da steckt einiges an Zündstoff drin«, sagte er. »Fast mehr als in der eigentlichen Kladde. Wobei die paar Seiten, die Diego de Landa in dem Buchdeckel unterbringen konnte, offenbar nur eine Art Kostprobe sind.«
»Kostprobe?« Maria Luisa blickte ihn verständnislos an.
»Es gibt offenbar noch weit mehr, was Diego de Landa der Nachwelt zu sagen hatte. Wenn ich es richtig verstanden habe, befindet sich der Rest seiner Niederschrift, in der er vor einer Großen Apokalypse warnt, dem Ende der Zeiten, in einem Grab in Mexiko.«
»In einem Grab?« Maria Luisa wirkte über diesen Umstand fast mehr erschrocken als über die erwähnte Apokalypse.
Tom rief sich in Erinnerung, dass sie in den letzten Tagen zwar schreckliche Dinge erlebt hatte, im Grunde ihres Herzens aber immer noch das naive, empfindsame, streng katholisch erzogene junge Mädchen war, das er in Madrid kennengelernt hatte.
»Ja«, sagte er, »und in diesem Grab befindet sich neben dem restlichen Manuskript noch etwas Bemerkenswertes. Wobei das noch untertrieben ist, wenn Diego de Landa nicht über treibt.«
»Der Leichnam?«
»Der auch, natürlich. Aber ich meine einen Gegenstand , den de Landa als ›Schlüssel zum sichersten Ort der Welt‹ bezeichnet. Er hat sogar eine Zeichnung davon beigelegt … hier.« Er zog das Blatt hervor
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