06 - Weihnacht
gelernt, mehr aus seinen Augen, seinem Gesicht zu lesen als von seinen Lippen zu hören. Als der Oberkellner ihn dienstbereit nach seinen Wünschen fragte, antwortete er nur das eine Wort „Wasser“ und richtete dann sein Auge auf mich. Ich verstand diesen Blick und erzählte ihm in kurzen Worten von dem Diebstahle, wobei ich keine lange Ausführung nötig hatte, um den Prayer-man und Watter und mein Verhältnis zu ihnen zu charakterisieren; ein treffendes Wort genügte vollständig für ihn. Als ich fertig war, stand er auf und sagte:
„Mein Bruder mag über die Klugheit dieser Leute nicht lachen sondern Mitleid mit ihr haben! – – –Winnetou will den Stall ansehen. Komm!“
Der Stall war sauber und stand jetzt leer. Wir schafften die Pferde hinein und ließen ihnen Wasser und Futter geben, welches wir vorher auf seine Güte untersuchten. Zugleich befahl Winnetou, daß kein anderes Pferd hineingestellt werden dürfe, was uns gern zugesagt wurde.
Der Stall lag, wie bereits einmal erwähnt, im Hintergebäude. Neben seiner Tür führte eine Treppe nach der Stube, in welcher der Prayer-man gewohnt hatte. Wir sahen den Sheriff mit Watter und dem Konstabler herabkommen. Ganz seinem bisherigen, unfreundlichen Verhalten zu mir entgegen, kam der erstere auf mich zu und meldete mir in einem Tone, als ob ich sein Vorgesetzter sei:
„Wir sind noch einmal oben gewesen, um ganz genau nachzuforschen, haben aber nichts gesehen. Auch im Zimmer von Mr. Watter haben wir nichts entdecken können, was uns auf den Täter und die Art und Weise, wie der Diebstahl ausgeführt wurde, schließen lassen könnte. Ihr hattet vorhin den Wunsch, einmal hier hinaufzugehen, Mr. Shatterhand?!“
„Diesen Wunsch hatte ich als Mr. Meier, der durch Eure Beschuldigungen dazu gezwungen wurde“, antwortete ich kalt. „Jetzt geht mich die ganze Sache nichts mehr an!“ Und in drohendem Tone fügte ich die Frage hinzu: „Oder etwa doch?“
„Nein, nein! Ganz und gar nichts! Eure Unschuld steht über jeden Zweifel erhaben; das ist ja ganz selbstverständlich! Aber ich dachte – – – dachte – – – hm!“
„Was dachtet Ihr?“ half ich ihm aus der Verlegenheit, in welcher er sich befand.
„Da Ihr Old Shatterhand seid und dieser vorzügliche Gentleman Winnetou, der Häuptling der Apatschen ist, und weil man weiß, daß Ihr selbst Spuren, die kein anderer erkennen kann, so meisterhaft zu lesen versteht, so wollte ich, weil ich Euch nun doch einmal hier treffe – – – hm!“
„So redet doch weiter!“
„Kurz und gut, ich wollte Euch höflichst bitten, doch einmal da hinaufzugehen und zu versuchen, ob Ihr vielleicht etwas findet, was wir nicht gesehen haben!“
Ich warf einen schnellen Blick auf Winnetou. Sein Gesicht war unbewegt; er war also weder dafür noch dagegen, sondern überließ mir die Entscheidung. Darum antwortete ich und zwar nur ganz kurz:
„Kommt!“
Sie stiegen voran, um uns die Stube zu zeigen. Wir folgten ihnen. Der Wirt, welcher im Hofe gestanden hatte, kam nach, als er sah, wer jetzt das Suchen übernahm. Der Sheriff schloß auf und wollte eintreten.
„Halt!“ sagte ich. „Ihr kommt erst hinter uns. Ihr könntet uns die Spur verderben, wenn Ihr sie nicht schon verdorben habt.“ Und um Winnetou Gelegenheit zu geben, diesen Leuten zu zeigen, was ein geübter Scharfsinn und Scharfblick zu bedeuten hat, schloß ich die Bemerkung an: „Der Häuptling der Apatschen wird zuerst eintreten!“
Er verstand mich, tat einen Schritt hinein und blieb dann stehen. Wir konnten sein Gesicht nicht sehen. Dann ging er bis in die Mitte der Stube, so daß wir folgen konnten. An der rechten Wand stand das Bett, an der linken ein Tisch und ein Stuhl, auf letzterem der Koffer des Prayer-man. Winnetou bückte sich und hob eine Schnur auf, welche unter dem Tische lag.
„Das ist nichts!“ sagte der Sheriff wegwerfend.
„Wartet nur!“ entgegnete ich.
Der Apatsche ging nach dem offenen Fenster und ließ die Schnur hinab, um zu sehen, wie weit sie draußen hinunterreichte. Dann warf er sie herein, behielt aber den Kopf draußen, um etwas, was wir nicht sahen, zu betrachten. Hierauf schwang er sich auf die Fensterbrüstung und stieg auf die noch anliegende Leiter hinaus. Als er wieder hereinkam, hatte er einen kurzstieligen Hohlbohrer in der Hand.
„Die Bleichgesichter haben keine Augen und keine Gedanken!“ sagte er. „Der Prayer-man ist nicht betrunken gewesen und hat nicht geschlafen. Er hatte
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